Normalerweise bekommen die Besitzer von Nachbargrundstücken Baugenehmigungen frühzeitig auf den Tisch, damit sie noch die Möglichkeit haben, Einspruch zu erheben, wenn der Neubau oder Teile davon Wert und Nutzung ihres eigenen Hauses beeinträchtigen. So ist das eigentlich im Baugesetz gedacht. Doch in Leipzig ist das irgendwie anders, wie Frank Wernstedt und Keith Hurst, die 2004 das Haus Erdmannstraße 16 in Plagwitz gekauft hatten, seit einem Jahr live erleben.

Auf dem Nachbargrundstück 14 will ein bekannter Leipziger Immobilienentwickler ein neues Wohnhaus bauen. Eigentlich werden ja jede Menge neue Wohnungen in Leipzig gebraucht. Doch der Zweifel wächst, ob das meiste von dem, was da gebaut wird, für die wohnungssuchenden Leipziger tatsächlich irgendeinen Sinn ergibt. Viele der mit großem Tamtam gebauten Wohnungsblöcke, die sich oft ähneln wie ein Eierkarton dem anderen, stehen auch Jahre nach der Fertigstellung halb leer, weil Normalverdiener sich in Leipzig Wohnungen für 10 Euro aufwärts kalt nicht leisten können.

Doch auch in der Erdmannstraße 14 sind nur solche teuren Wohnungen geplant. Und zwar möglichst viele. Das fiel Hurst und Wernstedt schon auf, als sie die Baupläne zum ersten Mal sahen. Das neue Haus soll nicht nur drei Etagen bekommen wie die anderen Häuser in der Erdmannstraße, sondern fünf. Damit überragt das Haus nicht nur das Dach der beiden Nachbarhäuser – es ragt sogar 1,75 Meter darüber hinaus.

Was das bedeutet, sieht man, wenn man mit den beiden Hauseigentümern aufs Dach der Nr. 16 klettert, von wo aus man heute noch weit über die Dächer von Plagwitz schauen kann. Fast alle Häuser habe dieselbe Traufhöhe, denn als sie vor über 100 Jahren gebaut wurden, achteten Leipzigs Bauämter streng darauf, dass die Traufhöhen eingehalten wurden. Das trägt auch zum einheitlichen Straßenbild bei, das wir heute als harmonisch empfinden. Auch wenn die Erdmannstraße nicht als Bauensemble unter Schutz steht, sondern nur jedes Gründerzeithaus einzeln.

Doch seit einigen Jahren ist alles anders, sieht man einzelne Gebäude herausragen, bei denen die Stadt den Bauherren genehmigt hat, noch ein, zwei Stockwerke draufzusetzen. Diese Häuser ragen deutlich hervor aus dem Dächermeer. Aber es ist weniger die Aussicht, die Hurst und Wernstedt Sorge macht, denn hinter dem überragenden Stockwerk würden auch die Schornsteine auf ihrem Haus verschwinden. Die sind noch voll funktionsfähig. Im ganzen Haus gibt es noch Kaminöfen. Und nach Bauvorschrift müssten solche Essen mindestens 15 Meter von der nächsten Wohnung entfernt sein und mindestens zwei Meter über den Dachhorizont ragen.

Von 15 Bäumen blieb nur ein alter, efeuumrankter Kirschbaum auf dem Grundstück erhalten. Foto: Ralf Julke
Von 15 Bäumen blieb nur ein alter, efeuumrankter Kirschbaum auf dem Grundstück erhalten. Foto: Ralf Julke

Zwölf große Wohneinheiten sollen in dem neuen Haus entstehen. Die ganze Planung erzählt von einem vergangenen Denken. Denn zu jeder der zwölf Wohneinheiten plant der Bauherr auch einen Tiefgaragenstellplatz. Eine Tiefgarage so einer Dimension passt nicht unter ein normales Wohnhaus. Nach den Planungen nimmt sie auch noch fast den gesamten Hinterhof ein. Ein Gelände, auf dem noch vor kurzem 15 Bäume standen. Jedenfalls nach derf Baumliste der Stadt. Tatsächlich waren es zehn Bäume und fünf Hecken.

„Es war ein richtiger kleiner Park“, sagt Wernstedt.

Aber bis auf einen sind all diese Bäume gefällt worden. Und erst nach Einsicht in die Briefwechsel, die zwischen den diversen Ämtern hin und her gingen, wurde deutlich, dass sich von den verantwortlichen Ämtern niemand auch nur die Mühe gemacht hat, das Grundstück vor Baubeginn zu begutachten.

Augenscheinlich gab es auch keine richtige Baugrunduntersuchung, sonst hätte man frühzeitig vom Betonfundament im Boden gewusst. Und selbst das Amt für Stadtgrün und Gewässer begutachtete die Bäume auf dem Grundstück erst im September, obwohl vorher schon allerlei Baumlisten durch die Ämter wanderten, die mit der Realität nichts zu tun hatten.

Als hätte jemand, der von Bäumen so überhaupt keine Ahnung hat, einfach mal eine Liste mit lauter Wunschbäumen geschrieben: acht Linden, fünf Buchen und – ojemine – zwei Laubbäume. Spätestens als die beiden entsetzten Hausbesitzer diese Liste sahen, war ihnen klar: Die Leipziger Ämter haben das Bauvorhaben nie und nimmer ernsthaft unter die Lupe genommen. Sie haben wohl wirklich einfach abgesegnet, was ihnen der Investor vorgelegt hat.

Und der macht sichtlich Druck – auf die Ämter. Das wird spätestens klar, als im September tatsächlich das Amt für Stadtgrün und Gewässer den Baumbestand begutachtet und dem Bauordnungsamt empfiehlt, die Baupläne noch einmal zu überarbeiten.

Doch das reagiert geradezu panisch mit dem Hinweis, „dass eine Änderung eine Tektur zur Baugenehmigung erforderlich machen würde mit Planung, Beantragung, Ämterbeteiligung und Zeitverzögerung des Bauablaufs, da die Gründung des Gebäudes betroffen ist. Eine Tektur wäre im Nachhinein mit einem gewissen Aufwand verbunden“. Tektur heißt hier einfach: Veränderung.

Doch das ist eigentlich nicht Thema der Genehmigungsbehörde, die all die Details ja frühzeitig hätte prüfen können. Aber eben nicht geprüft hat und das auch nicht für nötig befand. Es ist nur ein Thema für den Bauherren, der augenscheinlich den Wunsch hat, hier möglichst schnell zwölf hochpreisige Wohnungen mit Stellplatz in der Tiefgarage bauen zu können.

Der naive Leipziger fragt sich natürlich, warum ausgerechnet solche Wohnungen es so eilig haben. Braucht denn Leipzig nicht viel dringender bezahlbaren Wohnungsbau für Normalverdiener? Auf einmal steht der ganze seltsame Umgang der Leipziger Stadtverwaltung mit großen Immobilieninvestoren im Raum.

Kann es sein, dass die in Plagwitz geübte Genehmigungspraxis längst der Normalzustand in einer Verwaltung ist, die aus lauter Not, dass Leipzig nicht genug neue Wohnungen bekommen könnte, lieber auf genauere Prüfungen verzichtet und auch auf berechtigte Einwände – wie hier aus der Erdmannstraße 16 – mit der lapidaren Aussage reagiert, das müsse man nicht prüfen?

Und dann an die Vorgesetzte Behörde des Landes auch die falschen Baumlisten weitergibt. Denn als das Amt für Stadtgrün und Gewässer einen Experten hinschickte, fand der keine Eichen und Linden, sondern vor allem Ahorn- und Kirschbäume. Nur einer dieser Kirschbäume, der dicht mit Efeu umrankt ist, blieb am Ende stehen. Und es gibt nicht einmal die kleinste Chance, auch nur einen der anderen 14 Bäume zu ersetzen.

Warum das so ist, erzählen wir im nächsten Teil.

Wenn ein überdimensionierter Wohnklotz das historische Straßenbild zerstört

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