LEIPZIGER ZEITUNG/Auszug Ausg. 68Als die Koalition aus CDU und SPD auf Bundesebene Mitte Juni ein ganzes Paket von acht neuen Zuwanderungsgesetzen, Integrationsmaรnahmen und Neuregelungen bei Abschiebungen binnen weniger Tage durch den Bundestag peitschte, wollte sie Handlungsfรคhigkeit auf einem Gebiet beweisen, auf welchem sie lรคngst Getriebene ist. Durch die AfD, welche gern so viele Menschen wie irgend mรถglich wieder in ihre teils noch immer im Bรผrgerkrieg befindlichen Lรคnder zurรผckschicken mรถchte. Und durch die Opposition von links-grรผn, die deutlich bessere Integrationsmรถglichkeiten fรผr Zuwanderer und Geflohene einfordert.
Vor allem aber steigt auch der Druck am Arbeitsmarkt. Deutschland ist innereuropรคischer Wirtschaftschampion, was Produktivitรคt und Verkauf in andere Lรคnder betrifft. Gleichzeitig geht dem Champion die Luft aus, wie man auch am Beispiel Leipzig sehen kann.
Hier fehlten Anfang 2019 bereits 8.000 Arbeitnehmer vor allem in Dienstleistungsberufen, Alten- und Krankenpflege, auch die LVB sucht hรคnderingend neues Fahrpersonal, so manches Bauunternehmen nimmt keine neuen Auftrรคge mehr an. Kurz gesagt: wo wirklich angepackt werden muss, sind die Menschen rar geworden.
In den vergangenen Tagen hat die CDU/SPD-Koalition auf Bundesebene eine Menge Gesetze in extrem kurzer Zeit durch den Bundestag gebracht, welche mit Fachkrรคften, Zuwanderung, Migration und Abschiebungen zu tun haben.
Sie, Frau Kolbe, haben fรผr die SPD als Leipziger Arbeitsmarktexpertin mitverhandelt. Sie, Frau Rudolph-Kokot, das Gesetz scharf angegriffen. Wie kann man das Gesamtpaket beurteilen, was wird tatsรคchlich neu geregelt?
Kolbe: Der Deutsche Bundestag hat am vergangenen Freitag, 7. Juni 2019, in 2./3. Lesung acht Vorhaben im Bereich Migration und Integration verabschiedet. In dem Gesetzespaket enthalten sind unter anderem das Fachkrรคfteeinwanderungsgesetz und das Beschรคftigungsduldungsgesetz, Anpassungen im Asylbewerberleistungsgesetz und verschiedene Maรnahmen zur Entfristung des Integrationsgesetzes, aber auch das umstrittene sog. Geordnete-Rรผckkehr-Gesetz.
Bei der Bewertung bin ich zwiegespalten. Einerseits enthรคlt das Paket einige wirklich wegweisende Erfolge. Das Auslรคnderbeschรคftigungsfรถrderungsgesetz etwa รถffnet den Zugang zur Ausbildungsfรถrderung dauerhaft und regelt ihn weitgehend unabhรคngig von aufenthaltsrechtlichen Vorgaben.
Zudem gibt es groรe Fortschritte bei der Sprachfรถrderung fรผr Geflรผchtete. Wir bekommen endlich ein Einwanderungsgesetz, das es gerade auch Fachkrรคften mit qualifizierter Berufsausbildung erheblich erleichtert, zum Arbeiten nach Deutschland zu kommen oder hier vor Ort einen Arbeits- oder Ausbildungsplatz zu suchen.
Und mit der Dritten รnderung des AsylbLG schaffen wir einen Freibetrag fรผr ehrenamtlich tรคtige Flรผchtlinge und schlieรen die Fรถrderlรผcke bei der Ausbildungsfรถrderung.
Andererseits ist das Paket an vielen Stellen nicht der groรe Wurf: Die neu geschaffene Beschรคftigungsduldung zum Beispiel gibt es nur befristet und mit hohen Hรผrden. Bei der Ausbildungsduldung fallen wir aus meiner Sicht hinter den Status Quo zurรผck. So wird bei weitem nicht jede/r, der sich hier bei uns anstrengt, von den neuen Regeln profitieren.
Gibt es Punkte, die Sie gerechtfertigt und gut an den Neuregelungen finden?
Kolbe: Mit dem Auslรคnderbeschรคftigungsfรถrderungsgesetz bin ich รคuรerst zufrieden. Beim AsylbLG รผberwiegt fรผr mich der bereits genannte, positive Anteil, auch wenn mir die neue Regelbedarfsstufe 2 fรผr Geflรผchtete in Gemeinschaftsunterkรผnften nicht recht einleuchtet: Sie bekommen kรผnftig nur noch 90 % der Leistungen, weil durch ihr Zusammenleben angeblich Einspareffekte entstehen.
Wie genau das funktioniert, wenn man nicht freiwillig zusammen wohnt, nicht dieselbe Sprache spricht und vermutlich auch nicht das Gleiche einkauft, erschlieรt sich mir nicht. Empirische Beweise dafรผr kenne ich jedenfalls nicht.
Beim Einwanderungsgesetz hรคtte ich mir mehr Mut gewรผnscht, etwa bei den recht hohen Anforderungen fรผr die Einreise zur Arbeitsplatzsuche oder bei der Frage, wer als Fachkraft zu uns kommen kann. Es ist weiterhin eine in Deutschland anerkannte Berufsausbildung erforderlich. Diesen Anerkennungsprozess aus dem Ausland zu betreiben, ist รคuรerst schwierig. Ich finde, hier kann man kulanter sein, wenn jemand z. B. sehr gut Deutsch spricht. Ein konkretes Jobangebot ist ohnehin erforderlich.
Beim Duldungsgesetz kritisiere ich neben den bereits genannten Punkten bei der Beschรคftigungsduldung die neu eingefรผhrte Vorduldungszeit bei der Ausbildungsduldung. Das verschlechtert die bestehenden Mรถglichkeiten. Auรerdem hat man kรผnftig bei ungeklรคrter Identitรคt keinen Anspruch mehr darauf, egal, ob man alles Menschenmรถgliche unternommen hat. Die Erteilung liegt dann trotzdem im Ermessen der Auslรคnderbehรถrde. Mehr Rechtssicherheit fรผr die Beteiligten โ also auch fรผr die Unternehmen โ erreichen wir so nicht.
Besonders in der Kritik ist das โGeordnete-Rรผckkehr-Gesetzโ, warum?
Kolbe: Es geht aus meiner Sicht in die komplett falsche Richtung. Mit seinen vielen, meist sinnlosen Restriktionen erreichen wir genau das Gegenteil: Es wird nicht zu mehr Abschiebungen fรผhren, sondern Menschen dauerhaft von Sozialleistungen abhรคngig machen, von Teilhabe und Integration ausschlieรen und sie so schlussendlich Kriminellen in die Arme treiben.
Ich hรคtte mir gewรผnscht, dass sich der Bundestag etwas mehr Zeit genommen hรคtte fรผr die einzelnen Gesetze, vor allem, wenn alles irgendwie mit allem verbunden ist. Man muss ja auch die Bevรถlkerung mitnehmen.
Rudolph-Kokot: Es soll eine โDuldung fรผr Personen mit ungeklรคrter Identitรคtโ eingefรผhrt werden. Dies betrifft Menschen ohne Papiere, die diese auch nicht beschaffen kรถnnen. Sie sollen Wohnsitzauflagen, Buรgelder und ein Arbeitsverbot bekommen. Fรผr viele Betroffene geht das komplett an der Realitรคt vorbei. Die Wiederherstellung von Geburtsurkunden etc. ist in vielen Kriegsgebieten oder ehemaligen Kampfzonen einfach nicht mรถglich.
Weiterhin sollen Geflรผchtete, die in einem anderen EU-Staat schon Schutzstatus erlangt haben, keinen Anspruch auf Sozialleistungen in der Bundesrepublik mehr haben. In Europa ist das Sozialrecht sehr unterschiedlich. So verwirken z. B. Geflรผchtete, die in Italien ihren Schutzstatus erhalten haben, nach Ausreise ihren Anspruch auf Leistungen generell. Doch viele Geflรผchtete sind einfach zu ihren Familienmitgliedern gefahren. Zur Familienzusammenfรผhrung von Menschen mit Schutzstatus in unterschiedlichen europรคischen Staaten haben wir aus meiner Sicht derzeit keine vernรผnftige Regelung.
Und sogar anerkannte Asylsuchende sollen eine Auflage fรผr einen Wohnsitz bekommen dรผrfen. Bisher war das entsprechende Gesetz befristet. Nun wird es entfristet. Aus meiner Sicht schrรคnkt das die Arbeits- und Teilhabemรถglichkeiten von anerkannten Geflรผchteten ein. Oft sind die Mรถglichkeiten, in einer Groรstadt Arbeit zu finden, besser und vor allem in Sachsen ist das Leben in vielen Orten fรผr Menschen nichtdeutscher Herkunft einfach lebensgefรคhrlich.
Zudem verlรคngert das Gesetz den bisher mรถglichen Aufenthalt fรผr Geflรผchtete in sogenannten Ankerzentren von sechs auf achtzehn Monate. Nur fรผr Familien soll die Sechsmonatsgrenze bleiben.
Und bei den Abschieberegelungen sieht man, dass das Ziel der Gesetze ist, Abschiebungen zu erleichtern. Dafรผr wurde erstmals den Behรถrden das Recht eingerรคumt, Wohnungen auf der Suche nach den abzuschiebenden Menschen zu betreten. Auรerdem wurden Informationen rund um das Thema Abschiebungen als โStaatsgeheimnisโ eingestuft.
Das birgt Potential, Mitarbeiter/-innen helfender Organisationen zu kriminalisieren. Besonders fragwรผrdig ist aber die Einfรผhrung der Mรถglichkeit, abzuschiebende Menschen in regulรคren Haftanstalten unterzubringen. Ausreisegewahrsam darf festgelegt werden, wenn das Ausreisedatum um 30 Tage รผberschritten wurde.
Aber die Fachkrรคfteeinwanderung wurde ja offenbar verbessert?
Rudolph-Kokot: Ja, Deutschland bekommt ein Fachkrรคfteeinwanderungsgesetz. Verbesserungen gibt es fรผr junge Menschen auch nur mit Berufsabschluss. Hier wurden die Hรผrden deutlich gesenkt und die Vorrangprรผfung (es wird nicht mehr geprรผft, ob ein deutscher Staatsbรผrger den Arbeitsplatz besetzen kรถnnte) abgeschafft.
Allerdings sind die Hรผrden fรผr Zuwanderung von Menschen ab dem 45. Lebensjahr extrem hoch. Das betrifft meine Generation. Und wenn ich bedenke, dass ich gerade รผberlege etwas Neues in meinem Leben zu machen, dann kommt mir diese gesetzte Altersgrenze sehr ungerecht vor.
Was komplett fehlt ist ein Spurwechsel, der ermรถglicht, dass Geflรผchtete durch Ausbildung und Arbeit in eine regulรคre Einwanderung wechseln. Probleme bei der Umsetzung wird es auf jeden Fall geben. Denn was bleibt, sind lange und komplizierte Anerkennungsverfahren fรผr auslรคndische Berufsabschlรผsse.
Einige SPD-Bundestagsmitglieder, darunter Sie Daniela Kolbe, haben sich gegen die Koalitionsdisziplin entschieden und insbesondere das sogenannte โGeordnete-Rรผckkehr-Gesetzโ abgelehnt. Welche Grรผnde haben den Ausschlag fรผr diese Entscheidung gegeben?
Kolbe: Als Abgeordnete des Deutschen Bundestages bin ich ausschlieรlich meinem Gewissen verpflichtet. Vor diesem Hintergrund bin ich zu dem Ergebnis gekommen, dass ich dem Gesetz nicht zustimmen kann. Meine Kritik am โGeordnete-Rรผckkehr-Gesetzโ kann ich an folgenden Punkten exemplarisch darstellen:
Neu geschaffen wird eine โDuldung fรผr Menschen mit ungeklรคrter Identitรคtโ. Sie beinhaltet neben drastischen Leistungseinschrรคnkungen Arbeits- und Bildungsverbote in groรem Stil und schlieรt so alle Geflรผchtete, die keinen Pass vorlegen kรถnnen, langfristig von Integration und Teilhabe in unsere Gesellschaft aus.
Weil zum Beispiel die Duldungszeiten in diesem Status nicht mit angerechnet werden und so gerade jungen Geflรผchteten aus komplexen Herkunftssituationen (etwa in Iran aufgewachsene Afghanen) den Weg in ein Bleiberecht versperrt. Hierbleiben werden sie รผbrigens trotzdem (ohne Pass kรถnnen sie das Land nicht verlassen), ohne Perspektive und auf Kosten des Sozialstaats.
Durch die Einschrรคnkungen der persรถnlichen Aufenthalts- und Bewegungsrechte, die Arbeitsverbote und der hรคufig isolierten Lage der AnkER-Zentren, sind die Geflรผchteten dort dann fรผr anderthalb Jahre zur Untรคtigkeit verdammt. Als Sozialpolitikerin und aus meiner Beschรคftigung mit dem Thema Langzeitarbeitslosigkeit weiร ich sehr gut, was das mit Menschen macht.
Wir verschenken hier unglaublich viel Potenzial und multiplizieren die vorhandenen Vermittlungshemmnisse (Sprachbarriere, Traumata etc.) um ein Vielfaches.
Kann man bereits abschรคtzen, wie sich dieses Gesetz auf die konkrete Praxis im Umgang mit Duldungen und Migranten allgemein niederschlagen wird?
Rudolph-Kokot: Durch die Einfรผhrung der โDuldung lightโ werden viele Menschen in etlichen Punkten an der gesellschaftlichen Teilhabe gehindert. Sie bekommen keine Arbeitserlaubnis und werden sich so weder integrieren noch sich eine Existenz aufbauen kรถnnen. Auch ihre Kinder, die mit eingereist sind, wird dieser Status treffen. Das weiterzudenken ist besonders bitter.
Aus meiner Sicht wird man durch die Perspektivlosigkeit Menschen in Parallelwelten treiben. Aus gesamtgesellschaftlicher Perspektive ist besonders dieser Aspekt verheerend und setzt Jahrzehnte alte Fehler in der Migrationspolitik fort.
Kolbe: Aus meiner Sicht wird das โGeordnete-Rรผckkehr-Gesetzโ nicht zu mehr Abschiebungen fรผhren. Wenn wir reihenweise Menschen auf Dauer von Arbeit und Bildung, von menschenwรผrdiger Unterbringung und Versorgung, von gesellschaftlicher Teilhabe und Integration abschneiden, schaden wir nicht nur Geflรผchteten, sondern auch der inneren Sicherheit. Mit solchen Maรnahmen schaffen wir Zulauf fรผr Radikale und Islamisten und spielen Clan-Kriminellen in die Hรคnde. Das kann nicht das Ziel sozialdemokratischer Politik sein.
Insbesondere die Inhaftierungsmรถglichkeiten fรผr Familien und Kinder, welche von Abschiebungen bedroht sind, sind uns ins Auge gestochen bei der bislang erhobenen Kritik. Sind solche Ideen mit deutschen Grundgesetzen in รbereinstimmung zu bringen?
Kolbe: Unser Grundgesetz ist nicht der einzige rechtliche Rahmen, der das โGeordnete-Rรผckkehr-Gesetzโ schwierig macht. Es wurden im Gesetzgebungsprozess auch immer wieder menschen- und europarechtliche Bedenken laut. Sie erwรคhnen die Aufweichung des Trennungsgebots von Strafgefangenen und Geflรผchteten in Abschiebehaft. Dieses Gebot ist europarechtlich verbrieft und ebenfalls einer meiner groรen Kritikpunkte an dem Gesetz.
Die Bundesregierung argumentiert mit einer Notsituation, da nicht genรผgend Abschiebehaftplรคtze zur Verfรผgung stehen und erst neue geschaffen werden mรผssen. Vor dem Hintergrund, dass die Mรถglichkeit zur Unterbringung von inhaftierten Geflรผchteten in regulรคren Gefรคngnissen nur bis 2022 gegeben ist, die Lรคnder selbst entscheiden kรถnnen, ob sie davon Gebrauch machen und sich die Frage stellt, ob die Regelung รผberhaupt praktisch umsetzbar ist (Geflรผchtete dรผrfen z. B. innerhalb der Gefรคngnisse nicht im selben Trakt untergebracht sein wie Strafgefangene, Familien mรผssen separate Bereiche haben etc.), hielten Experten bei der Anhรถrung die Regelung gerade noch fรผr grundgesetzkonform.
Rudolph-Kokot: Die Unterbringung in regulรคren Gefรคngnissen ist tatsรคchlich fragwรผrdig. Dafรผr wird mit dem Gesetz das sogenannte Trennungsgebot aufgehoben. Abschiebehaft erfolgt nicht wegen eines begangenen Verbrechens. Und Menschen, die in Haft kommen, bekommen auch Rechtshilfe. Diese sollen aber dann Abschiebe-Inhaftierte nicht bekommen. Ich bin zuversichtlich, dass nicht nur dieser Aspekt gerichtlich รผberprรผft werden wird.
Sie, Frau Kokot, haben vom verloren gegangenen Vertrauen in der Zivilgesellschaft und den โGrausamkeiten, die anschlieรend die SPD aushaltenโ werden muss, rings um dieses Thema gesprochen. Gibt es fรผr diesen Vertrauensverlust bereits erste Signale in Leipzig?
22 Organisationen haben das โGeordnete-Rรผckkehr-Gesetzโ kritisiert. Darunter zahlreiche NGOs mit denen die SPD sehr eng zusammenarbeitet. Auch der DGB hat das Gesetz scharf kritisiert. Das hinterlรคsst Spuren. Besonders schlimm sind aber die Auswirkungen in der breiten aktiven Zivilgesellschaft.
Menschen, die sich fรผr Seenotrettung engagieren, Geflรผchtete bei ihrer Integration begleiten oder ihnen Rechtshilfe geben, antirassistisch Aktive โ sie haben in Grรถรenordnungen ihre Enttรคuschung auf allen Kanรคlen ausgedrรผckt und die SPD fรผr unwรคhlbar erklรคrt. Und ich kann ihnen das nicht verdenken. Die Kritik trifft uns Sozen vor allem vor Ort scharf, in den Initiativen und Vereinen, wo wir zum Teil selbst aktiv sind.
Neue Studie: Migration hat รถkonomische Grรผnde und bleibt meist in der Groรregion
Migration hat รถkonomische Grรผnde und bleibt meist in der Groรregion
Keine Kommentare bisher