„Das Zieljahr 2015 für ein landesweites Biotopverbundsystem hat Sachsen völlig verfehlt“, schrieben wir 2016. Natürlich höchst ungeduldig. Das Artensterben in unserer Landschaft ist in vollem Gang. Selbst viele Naturschutzgebiete sind viel zu klein oder – wie das Leipziger Auensystem – in einem katastrophalen Zustand. Dabei kam im Koalitionsvertrag von CDU und SPD 2014 das Zauberwort „Auenprogramm“ vor. Ist da überhaupt etwas passiert?

Der Passus im Koalitionsvertrag lautet: „Wir treten für einen vorbeugenden Hochwasserschutz ein, der die Balance zwischen baulich-technischen Lösungen und natürlichem Wasserrückhalt einhält. Dazu gehören insbesondere die Schaffung von Retentionsflächen, die Anlegung von Polderflächen, Deichrückverlegungen, Bebauungsverbote und die Etablierung eines Auenprogramms sowie kontinuierliche Pflegemaßnahmen.“

Man wünscht sich ja in Zeiten des Artensterbens, der hochbelasteten Flüsse und der belasteten Grundwasser, dass schnell etwas passiert. Am liebsten von heute auf morgen.

Aber ganz so schnell geht es nicht, was nicht nur an einem schwerfälligen Koalitionspartner liegt.

„Wir haben die Erarbeitung eines Auenprogrammes in den Koalitionsvertrag aufgenommen, weil Auen ein wichtiger Aspekt des natürlichen Hochwasserschutzes im Sinne von Retentionsflächen sind und zugleich auch einen Beitrag zur Verbesserung des landesweiten Biotopverbundes leisten können“, teilt uns Petra Strutz, Pressesprecherin der SPD-Fraktion, auf Anfrage mit. Das Thema der trockengelegten Flussauen beschäftigt Sachsen seit 2002, seit jenem Hochwasser, das die Medien gleich mal als „Jahrhundertflut“ bezeichneten.

Damals sah auch kurzzeitig der sächsische Umweltminister ein, dass nicht nur Sachsen mit dem jahrzehntelangen Ausbau der Deichsysteme einen Fehler gemacht hatte. Die hohen Deiche stauen das Wasser nicht nur in einem viel zu engen Flussbett auf, sie sperren die Flüsse auch von ihren breiten natürlichen Flussauen ab. Die sorgten in früheren Zeiten dafür, dass sich Hochwasser ausbreiten konnten und damit deutlich geringer anstiegen und auch nicht mit brachialer Geschwindigkeit zu Tal flossen.

Gefährlich wurden die Flüsse erst, seit ihnen der Raum genommen wurde. Doch das damals kurzzeitig geplante Programm, über 10.000 Hektar Flussaue wieder den Flüssen zurückzugeben, wurde schnell zusammengekürzt, der Löwenanteil der Flutgelder doch wieder in neue, hohe Deiche investiert. Nur wenige Retentionsflächen wurden wieder für die Flüsse geöffnet.

Die Hochwasser von 2011 und 2013 machten dann einmal mehr deutlich, wie fatal die alte Politik war. Diesmal brachen die Elbdeiche einfach, wo die Wasserlast zu groß wurde.

Aber blieb der Satz aus dem Koalitionsvertrag nun Makulatur?

Nein, teilt uns Petra Strutz mit: „Das Umweltministerium hat das Landesamt für Umwelt, Landwirtschaft und Geologie (LfULG) mit der Erarbeitung des Programms beauftragt. Auch wenn der Eindruck in der öffentlichen Wahrnehmung entstanden ist, dass im Bereich der Etablierung eines Auenprogrammes wenig passiert ist, so entspricht dies nicht den Tatsachen. Zunächst ging es erst einmal darum, die fachlichen Grundlagen zu erarbeiten, d. h. unter anderem eine Analyse der vorhandenen Datengrundlage vorzunehmen und die Bereiche an den großen Flüssen zu identifizieren, an denen eine Auenrevitalisierung überhaupt möglich ist. Das Programm enthält Projektpotentialgebiete unter anderem an der Elbe, der Mulde sowie auch das Leipziger Auensystem.“

Das Potenzial der Auenwiederherstellung in Sachsen. Prioritäres Projekt A ist das Leipziger Auensystem. Grafik: Freistaat Sachsen, LfULG, Vortrag Dr. Maik Denner
Das Potenzial der Auenwiederherstellung in Sachsen. Prioritäres Projekt A ist das Leipziger Auensystem. Grafik: Freistaat Sachsen, LfULG, Vortrag Dr. Maik Denner

Es dauert also. Es wird untersucht, abgewogen, zu Fachveranstaltungen geladen. Solche fanden tatsächlich 2015 und 2016 statt. Und dann erst wieder am 12. November 2018 in Freiberg. Da wurden dann tatsächlich erste Konturen eines Auenprogramms innerhalb der Planungen für den sächsischen Biotopverbund sichtbar.

Dr. Maik Denner aus dem Landesamt für Umwelt, Landwirtschaft und Geologie (LfULG) stellte die Konturen des Auenprogramms vor. Und was eine Aue eigentlich ist, zitierte er natürlich ebenfalls: „Funktionsfähige Auen sind vielfältig strukturierte Lebensräume, die in ihren ökologischen Bedingungen vorwiegend durch uneingeschränkten Kontakt mit dem schwankenden Wasserstand eines Fließgewässers geprägt sind. Der stete Wechsel der Wasserstände in der Flussaue zwischen Trockenfallen und Überfluten ist entscheidender Faktor für die Ausbildung und Erhaltung typischer Auenlebensgemeinschaften.“

Also keine „gesteuerten Vernässungen“, von denen in Leipzig manche Zeitung so gern schwärmt, sondern „uneingeschränkter Kontakt mit dem schwankenden Wasserstand eines Fließgewässers“. Er erzählte auch, wie viele Auen in Sachsen wieder zu einer richtigen Flussaue werden könnten, wenn der Freistaat das jetzt wieder systematisch angeht. Es geht um 280.000 Hektar eiszeitlich entstandener Flusstäler, also 14,9 Prozent der Landesfläche. Der größte Teil davon natürlich im nordsächsischen Abschnitt der Elbe und im Bereich der Mulde.

73.400 Hektar sind dabei natürliche Überschwemmungsfläche der Flüsse, was ungefähr 4 Prozent der Landesfläche betrifft. Aber der größte Teil davon liegt hinter Deichen, steht also im Hochwasserfall gar nicht zu Verfügung. 32 Gebiete an den Flüssen könnten auch im Zusammenhang mit dem Hochwassermanagement wieder geöffnet werden.

Aber das Wichtigste sind neun „naturschutz-fachlich prioritäre Gebiete“, bei denen die Auen wieder zu richtigen dynamischen Flussauen gemacht werden können. Und gleich das erste, der Buchstabe A auf der Karte, ist auch das größte dabei: das Leipziger Auensystem, bei dem das LfULG auch aufgrund der hohen Schutzgutdichte mittleres bis hohes Potenzial sieht, diese Auen wieder lebendig zu machen. Und zwar nicht nur die Burgaue, sondern das gesamte Auensystem.

Deswegen ging Christian Franke vom LfULG bei der Tagung in Freiberg in seinem Vortrag auch speziell auf das Leipziger Auensystem ein, erzählte, was man noch alles findet im Auenwald, wie sich die Aue in das Biotop-Verbundsystem einordnet und wie sich die Schutzziele hier wie eine Schichtentorte überlagern. Das Gebiet schreit regelrecht danach, es wieder als richtige Flussaue herzustellen.

Das FFH-Gebiet Leipziger Auensystem. Grafik: Freistaat Sachsen, LfULG, Vortrag Christian Franke
Das FFH-Gebiet Leipziger Auensystem. Grafik: Freistaat Sachsen, LfULG, Vortrag Christian Franke

Und weil viele der geschützten Güter (von Vögeln über Wasserbewohner bis hin zum typischen Auenbewuchs) hochgradig gefährdet sind, ergibt sich daraus die auch vom LfULG festgestellte Priorität beim Handeln: Gefährdung + Verantwortlichkeit = Priorität.

Er zeichnete dann eine 50-Jahres-Perspektive: Was würde passieren, wenn man gar nichts macht? Wenn man also alles so lässt wie bisher. Und daneben stellte er zwei Szenarien:

Auedynamik: Wie würde sich die Situation der Schutzgüter entwickeln, wenn bei gleicher Nutzungsintensität wie bisher eine naturnahe Auedynamik weitgehend wiederhergestellt würde?

Prozessschutz: Wie würde sich die Situation der Schutzgüter entwickeln, wenn eine naturnahe Auedynamik weitgehend wiederhergestellt würde und zugleich bis auf eine extensive Beweidung zur (partiellen) Offenhaltung keine (forst- und landwirtschaftliche) Nutzung mehr stattfinden würde?

Dabei wird zumindest deutlich, dass ein Weiter so die Erhaltungszustände im FFH-Gebiet massiv verschlechtert, dass hingegen die Herstellung einer richtigen Auendynamik die meisten positiven Effekte hat.

Was aber noch nicht heißt, dass klar ist, was jetzt getan wird. Auch Behörden und Naturschutzverbände sollen noch beteiligt werden, um ein neues Leitbild zu entwickeln. Und auch die konkurrierenden Nutzungen sollen in die Abwägung mit einfließen (Hochwasserschutz, Forst, Landwirtschaft, Erholungsnutzung etc.). Das kann dauern. Erst recht, wenn einige Leute da ihre alten Pfründe verteidigen.

„Kurz gesagt, die Etablierung des Auenprogramms ist ein laufender Prozess. Nach unseren Informationen wird derzeit beim LfULG eine Internetinformation vorbereitet“, teilt uns die SPD-Fraktion mit. „Bezüglich des Leipziger Auenwaldes gab es mehrere Informationsgespräche mit Mitgliedern des auch für den Umweltschutz zuständigen Arbeitskreises der SPD-Landtagsfraktion.“

Der Prozess ist also irgendwie begonnen – aber auch das Auenprogramm reicht über die aktuelle Regierungsperiode hinaus. Und die Umsetzung dauert hoffentlich nicht bis 2068. Denn der Blick auf die von Maik Denner verwendete Karte zeigt, dass nirgendwo der Handlungsdruck so hoch ist wie im Leipziger Auensystem.

Das Zieljahr 2015 für ein landesweites Biotopverbundsystem hat Sachsen völlig verfehlt

Das Zieljahr 2015 für ein landesweites Biotopverbundsystem hat Sachsen völlig verfehlt

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