Sechs Jahre, was sind schon sechs Jahre? Für eine Verwaltung nichts, für Bürger, die mit Lärm und hoher Luftbelastung leben müssen, eine Katastrophe. Mehrfach in den vergangenen Jahren haben wir die Probleme an der Karl-Tauchnitz-Straße hier thematisiert. Die Straße ist Teil des sogenannten "Tangentenvierecks". Und seit 2011 ist sie auch noch so eine Art Lärmableiter für die Harkortstraße.
2010 hatte ein in der Harkortstraße ansässiger Anwalt einfach die Chance genutzt, die ihm die Rechtssprechung gibt: Er hat vor seinem Büro die Abgaswerte messen lassen und der Stadt mit Klage gedroht, wenn sie die Belastung der Harkortstraße nicht umgehend senkt.
So schnell wie selten bei einer Petition reagierte die Verwaltung und sperrte die komplette Strecke von der Wundtstraße bis zum Ring für Lkw mit mehr als 12 Tonnen. Die Lkw werden in die Karl-Tauchnitz-Straße umgeleitet und sorgen seitdem dort für erhöhte Lärmbelastung, erhöhte Luftbelastung und deutlich erschwerte Querungsmöglichkeiten. Das Thema hat seitdem immer wieder den Stadtrat beschäftigt.
2015 setzten sich die Grünen mit ihrem Antrag durch, mehr Querungsmöglichkeiten zu schaffen.
Dafür scheiterte am 25. Oktober 2015 eine Petition im Stadtrat, die die Bewohner des Musikviertels aufgesetzt hatten. Rund 2.000 Unterschriften waren gesammelt worden. Denn seit der Schwerverkehr hier umgeleitet wird, ist aus einer Straße, die 1885 als reine Anliegerstraße gebaut worden ist, eine laute Durchgangsstraße geworden, in der die Kraftfahrer nicht aufs Brems-, sondern aufs Gaspedal treten. Nur zur Erinnerung: Als das Musikviertel gebaut wurde, war das fast eine reine Villensiedlung. Erst die Blockbebauung aus DDR-Zeit veränderte den Charakter des Viertels deutlich. Und seit 2000 versuchen private Bauherren, ein wenig vom alten Wohnflair wieder zurückzugewinnen. Gerade entlang der Karl-Tauchnitz-Straße entstanden moderne Stadthäuser, gern beworben mit ruhiger Wohnlage. Wer hier in den Nuller-Jahren einzog, schien das große Wohn-Los gezogen zu haben.
Aber weder Bauherren noch neue Bewohner rechneten mit dem Husarenstreich von 2011. Damals malten sie sich sogar Chancen aus, die Stadt zu einer Lösung bewegen zu können. Immerhin liegt auch ein Kindergarten an der Straße, ein zweiter war im Gespräch. Es gab Gespräche mit Verwaltung und Fraktionen. Nichs ist passiert.
2015, als die Bewohner mit einer Petition noch einmal versuchten, für die Straße Tempo 30 zu erwirken, endete der mühsame Weg mit einer starren Ablehnung des Dezernats Planung und Bau, das in einer langen Erläuterung fast alle Argumente der Petenten zu entkräften schien.
„Ein Anstieg des Kfz-Verkehrsaufkommens im Vergleich zu den Zählungen 2011 kann nicht festgestellt werden. Die Kfz-Belastung liegt trotz zu beachtender Baumaßnahmen in der Karl-Liebknecht-Straße und Könneritzstraße mit 17.640 Kfz/24h (DTV Mo-So) und einem Lkw-Anteil von 6,1% auf dem gleichen Niveau wie 2011.“
Was schon eine Verharmlosung war. Denn eigentlich hätte mit dem Niveau vor Sperrung der Harkortstraße für den schweren Lkw-Verkehr verglichen werden müssen.
Aber die Antwort zeigte auch, dass die Verwaltung bewusst den völlig veränderten Charakter der Straße ignorierte. Der war nicht erst durch die Lkw-Umleitung seit 2011 zustande gekommen, sondern schon ab den 1990er-Jahren mit dem Ausbau des sogenannten „Tangenten-Vierecks“, das tatsächlich einen großen Teil des Verkehrs vom Promenadenring ablenken sollte – und das auch tut.
In der Stellungnahme des Baudezernats hieß es: „Der neue Stadtentwicklungsplan Verkehr und öffentlicher Raum wurde im März 2015 durch den Stadtrat beschlossen. In ihm sind auch die verkehrlichen Leitlinien für die nächsten Jahre fixiert. Bestandteil des dabei zugrundegelegten Hauptstraßennetzes ist auch die Karl-Tauchnitz-Straße, die eine wichtige Funktion für die Verbindung und Verteilung des Kfz-Verkehrs zwischen den Leipziger Ortsteilen hat.“
Aus der Anliegerstraße Karl-Tauchnitz-Straße war so eine Hauptstraße geworden. Und mit der Schließung der Harkortstraße für Schwerlastverkehr auch noch eine unersetzbare. Gut möglich, dass die Verkehrsplaner mit allen Kräften versuchen, das Thema unter der Decke zu halten. Denn damit würde das viel gepriesene Tangenten-System endgültig in Fage gestellt. (Mal ganz beiseite gelassen, warum man die Einrichtung des Tangenten-Vierecks nicht direkt verbunden hat mit der Stillegung einer kompletten Fahrbahn im Innenstadtring. Denn entweder funktioniert es – dann braucht der City-Ring keine drei Fahrbahnen mehr. Oder es funktioniert nicht. Dann kann man das Gerede vom Tangentenviereck bleiben lassen.)
Was in der Stellungnahme des Planungsdezernats nicht zu lesen war, waren die konkreten Werte – weder zur Luftbelastung waren sie angegeben, noch zur Lärmbelastung. Ausschweifend wurde stattdessen erklärt, dass nur die städtischen Lärmberechnungen hier Maßstab sein können.
Die Stellungnahme war weniger für die betroffenen Bürger gedacht, eher für die Stadtratsfraktionen, von denen einige schon ein wenig unruhig waren.
Schon im Mai 2013 hatte sich SPD-Stadtrat Mathias Weber entsprechend geäußert, denn es steht ja auch noch eine gravierende Änderung an: „Das zukünftige Gymnasium in der Telemannstraße wird tägliches Ziel von über 1.000 Menschen. Die meisten werden dabei auf den Umweltverbund angewiesen sein. Die einzige in der Nähe verkehrende Buslinie 89 verfügt lediglich über 32 Sitzplätze. Größere Bustypen auf der Linie 89 können wiederum nicht durch die engen Fußgängerzonen der Innenstadt fahren. Ebenfalls sehen wir Bedarf an Vorschlägen, wie dann mit den Verkehrsbelastungen auf der Wundtstraße und der Karl-Tauchnitz-Straße umgegangen werden soll. Aus diesem Grund muss die gesamte Verkehrsinfrastruktur untersucht und an die Mobilitätsbedürfnisse, die durch den gymnasialen Neubau entstehen, angepasst werden.“
Gehört hat man dazu bis heute nichts.
Als die Petition am 28. Oktober 2015 zu später Stunde im Stadtrat zur Entscheidung kam, wandte sich nur eine Fraktion komplett gegen die von der Stadt vorgeschlagene Ablehnung – die Grünen-Fraktion. Der verkehrspolitische Sprecher Daniel von der Heide äußerte sich eindeutig und kritisierte die Verwaltung für ihre Untätigkeit: Man müsse der Petition sicherlich nicht in allen Punkten zustimmen, sagte er, aber dass die Stadtverwaltung bei diesem Problem überhaupt nichts anzubieten habe, fand er dann doch beschämend. Die Grünen lehnten also die Ablehnung der Petition ab. Die Stadtratsmehrheit aber stimmte zu.
Und wieder standen die Bewohner des Musikviertels mit leeren Händen da. Daran hat sich bis heute nichts geändert. Obwohl selbst die Zahlen der Stadt aus der Lärmkartierung bestätigen, dass die Karl-Tauchnitz-Straße eine der lautesten Straßen im Innenstadtgebiet geworden ist. Die Lärmkartierung weist hier Lärmpegel von 60 bis 70 Dezibel (A) auf. Das ist mit dem Lärm auf dem Innenstadtring direkt vergleichbar. Der Unterschied ist nur: An den sonst üblichen Hauptstraßen in der Stadt werden die Wohnungen auch entsprechend gebaut – mit Schlafzimmern zur straßenabgewandten Seite und entsprechendem Schallschutz. Den scheint es in vielen Häusern des Musikviertels nicht zu geben.
Dafür hat man jetzt den Lkw-Lärm, der vorher durch die Harkortstraße rumpelte.
Und entsprechend frustrierend ist es für die Bewohner, wenn das Planungsdezernat der Stadt auch noch trocken bilanzierte: „Somit ist auch 2015 keine andere Entscheidung zu Maßnahmen aufgrund der Lärmbelastung möglich. – Auch der Luftreinhalteplan der Stadt Leipzig liefert keine Anhaltspunkte für erforderliche verkehrsregelnde Maßnahmen zur Reduzierung von Abgasen in der Karl-Tauchnitz-Straße.“
Aber 2016 soll das neue Gymnasium in der Telemannstraße in Betrieb gehen, vielleicht fühlt sich die Stadtverwaltung genötigt, doch ein paar Maßnahmen zur Lärm- und Gefahrenreduzierung einzuleiten.
Es gibt 2 Kommentare
Das Tangentenviereck ist schon lange gestorben, derartige Planungen gibt es dem Vernehmen nach nicht mehr. Angeblich gibt es jetzt überhaupt keine größeren Autoverkehrsprojekte mehr, die noch in Planung stehen.
Die Problematik der Tauchnitzstraße einschließlich der Nicht-Lösung der Fußgängerquerung am berüchtigten sog. “Kreisel” (der keiner ist, weil direkt an Frau Zetkin noch eine Tangente vorbeiführt) ist seit Jahren bekannt.
Beton? Wird man bei der Stadtverwaltung fündig, besonders bei Verkehrs- und bei Stadtplanern.
Ich hoffe, dass die EU mal beginnt, mit Sanktionen zu drohen wg der fortgesetzten Verletzung der Lärmschutzverordnung (die man quasi analog zur Feinstaubverordnung erlassen hat).
Anders ist den städtischen Entscheidern nicht mehr zu helfen.
Wahlen? Ich habe bei jeder Wahl meine Stimme abgegeben. Jetzt überlege ich, nicht mehr zu den Kommunalwahlen zu gehen.
Wenn nicht einmal der Leipziger Stadtrat der Stadtverwaltung die Stirn bietet, dann ist die Wahlstimme komplett sinnlos. Der Stadtrat ist die Regierung, nicht der OBM und schon gar nicht die Stadtverwaltung.
Diese Untätigkeit, Verharmlosung und Ignoranz der Verwaltung sollte endlich bei Wahlen Konsequenzen haben.
Lärmprobleme – nachgewiesen vorhandene! – werden ausgesessen. Kann man da nicht klagen?
Selbst im Leipziger Osten hört man nachts Flugzeuge landen und starten.
Wie hier Geldverdienen auf Kosten aller Bürger ausgeufert ist, kann doch nicht rechtens sein, oder doch?
Auch das Geschwafel vom Luftreinhalteplan ist nicht mehr glaubwürdig. Leipzig hat nicht wirklich groß was getan, ist immer noch in Verzug mit Sollvorgaben (z.B. Bäume pflanzen).
Und der ÖPNV ist vermutlich vielen nur ein Dorn im Auge, wenn man sieht, wie er behandelt wird.
Dabei wäre er ein großer Schritt für viele Probleme…