Die Uhr tickt. Ein Zeitalter geht in Lindenau zu Ende. Die Gartenflächen der Nachbarschaftsgärten sollen verkauft werden. Seit dem 1. Dezember 2013 haben schon einige Interessenten die Flächen besichtigt, meldet Karla Müller als Sprecherin all der Pioniere, die vor zehn Jahren mit den Nachbarschaftsgärten die Entwicklung in Altlindenau rund um die Josephstraße in Gang gesetzt haben.

Doch es passiert, was in solchen Fällen immer passiert: Die als Zwischennutzung gedachten Nachbarschaftsgärten haben sich als wertvolles Element der Revitalisierung im Ortsteil erwiesen. Ringsum begann nicht nur die Sanierung der Häuser, die schon reihenweise leer gestanden hatten. Nicht nur die wenigen verbliebenen Altbesitzer sanieren, auch neue Besitzer entdecken den wachsenden Stadtteil. Viele Brachen wurden mittlerweile mit neuen schicken Stadtteilhäusern bebaut, der Buchkinder e.V. baute eine Kindertagesstätte – weil nun auf einmal auch wieder haufenweise Kinder da waren. Und siehe da: Die Nachbarschaftsgärten sind mit das letzte Grün in der Straße. Und jetzt werden die Inhaber der genutzten Grundstücke munter.

Die grüne Oase ist bedroht. Und mit einem offenen Brief wenden sich die Nachbarschaftsgärtner an die Öffentlichkeit.

Hier ist er in voller Länge:

“Die Nachbarschaftsgärten in Leipzig – wer wir sind und wo wir sein werden.

Der Westen boomt und Lindenau/Plagwitz vibriert vom Baulärm. Neben den Presslufthämmern zur Sanierung von Straßen, dem Baggerdröhnen von Baustellen zur Viertelverschönerung hört man auch das Baugeräusch aus Hausprojekten, die sich der Aufwärtsbewegung in der Stadtentwicklung auf ihre Weise entgegenstellen. Mit dem heutigen Blick auf unser Viertel lässt sich kaum noch vorstellen, dass es vor rund zehn Jahren ganz anders aussah, viele Häuser verfielen und sich Brachfläche an Brachfläche reihte.

Dieser Freiraum inspirierte im Jahr 2004 den Lindenauer Stadtteilverein zu einer Idee für das leere Grundstück zwischen Joseph- und Siemeringstraße. Das wäre der richtige Ort für einen Gemeinschaftsgarten in der Nachbarschaft. So entstand das Zwischennutzungskonzept für die Nachbarschaftsgärten. Fünf Eigentümer; die Stadt Leipzig, eine Aktiengesellschaft und Privatpersonen, stellten die Flächen, für die sie zu dem Zeitpunkt keine Verwendung hatten, zur Verfügung. Als Auflage galt, dass die Nutzung zeitlich begrenzt und die Verwendung gemeinnützig ist. Mit Unterstützung von jungen Leuten aus ganz Europa wurden in zwei Baulagern die ersten Gartenflächen angelegt. Innerhalb von zwei Wochen entstanden zwölf Gärten, auf denen heute schon mannshohe Apfelbäume Früchte tragen.

Wie die Pflanzen, die hier Wurzeln geschlagen haben, so verwuchsen auch die Gärten mit jedem Jahr ein bisschen mehr mit dem Viertel. Im Jahr 2007 wurde mit viel Enthusiasmus das erste Strohballenhaus Leipzigs als ökologisches Pionierprojekt errichtet. Es wird auch heute noch gern genutzt und ist mit seinem eingebauten Ofen gern besuchter Treffpunkt in den Wintermonaten. Seit dieser Zeit fanden und finden auch in regelmäßigen Abständen verschiedene Workshopreihen zur Blockentwicklung in Zusammenarbeit mit der Stadtverwaltung im, mit, und um den Garten statt. Viele aus diesen Diskussionen entstandene Projektideen für die Gestaltung des Blocks sind heute realisiert.

Abgesehen von der Eigenschaft des Gartens als Ort der Ruhe und Treffpunkt für die GärtnerInnen und Nachbarschaft, wird er auf vielfältige Art und Weise genutzt. Dazu gehört zum Beispiel das jährliche Heumachen, die Haltung von Minischweinen, Hühnern und Hasen, der Freiflächensalon als Sommerfest im Stadtviertel, als auch die verschiedenen Kindergartengruppen, die hier ihre eigenen Beete pflegen.Über die lange Zeit der Nutzung ist ein naturnaher Erlebnisraum entstanden, der erfrischend zweckungebunden zum Verweilen einlädt und sich zum nicht weg zu denkenden Treffpunkt in der Nachbarschaft gemausert hat. Es werden Erdbeeren und Tomaten angebaut, eigene Möbel gebaut und Skulpturen geschnitzt, Fährräder in der Selbsthilfewerkstatt, die dem ganzen Viertel zur Verfügung steht, auf Vordermann gebracht und Lastenräderbauworkshops abgehalten.

Die Zukunft der Gärten ist aufgrund der vertraglich festgelegten Zwischennutzung schon immer unsicher. Das Wissen um diesen Vertrag hat die GärtnerInnen immer beschäftigt, deshalb hat sich der Nachbarschaftsgarten e.V. auch immer an den Diskussionen um den Stadtteil beteiligt. Trotzdem sind sich die GärtnerInnen immer bewusst gewesen, dass die Einhaltung des Vertrages auch immer Teil der Verabredung und damit Verantwortung gegenüber der Vertragspartner, sowie NutzerInnen war und ist.

Nun tickt unsere Uhr, denn die Investmentgesellschaft verkauft ihr Grundstück und hat bereits den Bau von Einfamilienhäusern konzipiert. Schon jetzt führen GärtnerInnen gelegentlich Kaufinteressenten über das Grundstück. Wie wird es hier wohl aussehen, wenn das Gelände in kleine Hausparzellen gezähmt ist? Jeden Tag kommen die Bagger gefühlt ein Stück näher.

Also haben wir Gärtner uns zusammengesetzt und überlegt, wie wir die Idee der Gärten trotz der aktuellen Situation erhalten können. Wir versuchen Möglichkeiten zu entwickeln, die sich momentan noch im weiten Feld der Auslotungen befinden. Sie reichen von der Idee gemeinschaftliches Eigentum zu erwerben, einen Gemeinwohlstifter zu finden, bis zu Überlegungen für eine politische Lösung.

Im Moment ist noch alles offen, da die unterschiedlichen Erwägungen genau bedacht sein wollen. Wir versuchen derzeit den besten Weg zu finden, um weiterhin mit den Gärten urbane Lebensqualität zu bereichern und einen Kompromiss zwischen Eigentum und gemeinschaftlicher Nutzung zu finden.

Aus ideellen Knospen und dem Traum von einem grünen und vielfältigen Stadtteil, ist ein Garten gewachsen, der sich zu einer grünen Oase entwickelt hat. Die Nachbarschaftsgärten waren und sind nicht das Zentrum für Bewegung im Stadtteil. Aber sie sind Startpunkt für gute Ideen und eine Plattform für einen kreativen Austausch.

Der Nachbarschaftsgarten ist aus Zwischennutzung entstanden. Jetzt geht es darum, eine dauerhafte Perspektive für gemeinschaftliches Gärtnern in der Stadt zu finden.

Wir brauchen diese Fläche!
grün, gemeinschaftlich, nichtkommerziell

Nachbarschaftsgärten erhalten!

Ab dem 21. März (Frühlingsanfang) wird der Garten einmal in der Woche immer am Freitagnachmittag für Alle geöffnet sein.

Nähere Informationen und konkrete Veranstaltungshinweise bald auf:

www.nachbarschaftsgaerten.de

www.lindenauerstadtteilverein.de

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