Seit August, seit eine Menge Leute mit heiterster Laune die Verteilerebene für den Zugang vom Kleinen Willy-Brandt-Platz zum Hauptbahnhof und unterirdischer S-Bahn-Station Hauptbahnhof in Betrieb nahmen, kocht die Diskussion: Wer ist schuld daran, dass das Bauwerk nicht barrierefrei ist? Die Linke-Abgeordneten Pellmann und Külow wollten das vom sächsischen Verkehrsminister Sven Morlok wissen. Der verweist in seiner Antwort auf die Stadt Leipzig. Und auf Pellmann und Külow.

Die Antwort hat es in sich. Nicht weil der Verkehrsminister noch einmal alle technischen Anlagen aufzählt, die den barrierefreien Zugang von verschiedenen Seiten ermöglichen – Rolltreppen, Fahrstühle, einiges davon von der Stadt Leipzig extra noch bezahlt, weil es im Budget der Bahn nicht vorgesehen war. Von fast allen Seiten ist diese geschwungene Verteilerebene tatsächlich barrierefrei erreichbar. Nur von einer nicht: vom Hauptbahnhof her. Da kann man zwar sagen: Es sind eigentlich die Promenaden Hauptbahnhof, die hier durch eine neunstufige Treppe abgesetzt und somit nicht barrierefrei erreichbar sind. Aber die Verteilerebene soll ja trotzdem den direkten und barrierefreien Zugang von der Nikolaistraße her zum Hauptbahnhof ermöglichen. Das tut sie aber nicht. Bestenfalls können Gepäck-Bepackte und Behinderte mit dem Fahrstuhl zum S-Bahnsteig hinunter fahren und von dort wieder den Aufzug zum oberirdischen Bahnsteig nehmen. Ein echter Schildbürgerstreich.

Aber es geht noch besser. Denn Verkehrsminister Sven Morlok betont extra: “Die Verteilerebene mit dem Zugang zu den Promenaden im Hauptbahnhof wurde entsprechend den Vorgaben der Stadt Leipzig geplant und ausgeführt. (…) Die entsprechende Vereinbarung mit der Stadt Leipzig wurde dem Stadtrat durch den Oberbürgermeister zur Beschlussfassung vorgelegt. Bestandteil der Vorlage sind Plandarstellungen und umfängliche planerische Ausführungen. Die Vorlage wurde in der Ratsversammlung am 8. 2. 2006, an welcher die Fragesteller teilgenommen hatten, ohne Gegenstimme bei einigen Enthaltungen beschlossen.”Die beiden Fragesteller Dr. Dietmar Pellmann und Dr. Volker Külow saßen damals für die Linke im Leipziger Stadtrat. 2009 erst haben sich beide komplett auf ihr Landtagsmandat konzentriert.

Aber der neckische Verweis von Sven Morlok hat es in sich. Denn er selbst saß am 8. Februar 2006 noch für die FDP im Leipziger Stadtrat, hat also den Beschluss auch mitgetragen – oder sich der Stimme enthalten. Aber was wurde damals wirklich beschlossen? Und zwar ganz konkret zu diesem nun eindeutig nicht barrierefreien Zugang zum Hauptbahnhofsgebäude? Kann es sein, dass damals schon ein paar Leute mit gezinkten Karten spielten?

Im damals geschlossenen Vertrag heißt es als “Begriffsbestimmung”:

“(1) Die Verteilerebene im Sinne dieses Vertrages ist der Teil des in der Präambel erwähnten Verbindungsbauwerkes, das wie folgt beschrieben wird:

– Zugangsbauwerk zur Verteilerebene vom Zugang Nikolaistraße, bestehend aus zwei Fahrtreppen (eine auf- und eine abwärtsführende Treppe) und zwei festen Treppen sowie einem Rolltor am Eingang;

– drei Aufgänge zu den Bahnsteigen der Leipziger Verkehrsbetriebe GmbH (LVB) am Hauptbahnhof mit festen Treppen an den Randbahnsteigen und zwei Fahrtreppen (eine auf- und eine abwärts führende Treppe) zum Mittelbahnsteig; jeweils verschließbar mit drei weiteren Rolltoren.

– Zugangsbauwerk zum Hauptbahnhofsgebäude (Umbau des bestehenden Bauwerkes) mit Anbindung durch zwei feste Treppen und zwei Fahrtreppen (eine auf- und eine abwärtsführende Treppe); verschließbar mit Schiebetor und

– geschwungene Ebene als Verbindung zwischen den genannten Anlagenteilen.

Die festen Treppen sind beidseitig der Fahrtreppen anzuordnen.”

Ist der Übergang zu den Promenaden hier gar nicht definiert? Ist das erwähnte “Zugangsbauwerk zum Hauptbahnhofsgebäude” nicht jener Teil, über den man direkt zu den unterirdischen S-Bahn-Steigen gelangt – mit zwei festen Treppen und Fahrtreppen?
Dieses “Zugangsbauwerk” findet sich auch im Beschlusstext des Stadtrates zu diesem Vorgang. Da heißt es: “Man gelangt von der Oberfläche des Promenadenrings aus Richtung Nikolaistraße mittels Fahrstuhl, Fahrtreppen und fester Treppen in die Verteilerebene, die geschwungen unterhalb der Ringfahrbahn und der LVB-Gleise bis in das Hauptbahnhofsgebäude verläuft. Im mittleren Abschnitt ist westlich der Zugang zum S-Bahnsteig angeordnet. Das im Grundriss rechteckige, nach unten offene Zugangsbauwerk zur S-Bahn wird in Höhe der Verteilerebene von einer Brücke überspannt, von welcher man mit Fahrstuhl, Fahrtreppen und festen Treppen nach unten auf den Bahnsteig kommt.”

Damit ist also wirklich der Zugang zum S-Bahnsteig gemeint, nicht der ins Hauptbahnhofsgebäude und in die Promenaden. Aber wo steckt der?

Beim Stichwort “Anlagenverteilung”, wo aufgegliedert wird, wer künftig für welchen Teil zuständig ist, gibt es nämlich noch ein “Zugangsbauwerk”. Da heißt es nämlich: “Zugangsbauwerk zum Hauptbahnhofsgebäude (Umbau des bestehenden Bauwerkes) mit Anbindung durch zwei feste Treppen und zwei Fahrtreppen; verschließbar mit Schiebetor.” Und zwar: zugeteilt der Stadt Leipzig.

Und etwas weiter unten, der DB Service & Station AG zugeteilt: “Kleines Atrium mit ‘Brücke’, zwei Fahrtreppen und feste Treppe zwischen S-Bahnsteig und Verteilerebene; verschließbar in Richtung Verteilerebene.”

Das heißt: Das im Vertrag genannte “Zugangsbauwerk” ist nicht identisch mit dem im Stadtratsbeschluss unter “Gestaltung” genannten “Zugangsbauwerk”, mit dem eigentlich das “Kleine Atrium” gemeint ist. Aber eindeutig steht im Vertrag ein “Zugangsbauwerk” – zum Hauptbahnhofsgebäude.

Da müsste also auch unter “Gestaltung” ein Passus dazu auftauchen. Tut er auch: “Am nördlichen Ende der geschwungenen Verteilerebene gelangt man in das Gebäude des Hauptbahnhofs. Dabei stellt sich der gegenüber dem heutigen Bestand nahezu gespiegelte Zustand wieder ein.” Der “heutige Bestand” war der alte Tunnel, der nach der Eröffnung der “Verteilerebene” zugeschüttet wurde.

Aber wie war der Übergang gedacht? Ebenerdig? Oder doch mit Treppen und Rolltreppen? So wie unter “Begriffsbestimmung” nachzulesen: “Zugangsbauwerk zum Hauptbahnhofsgebäude (Umbau des bestehenden Bauwerkes) mit Anbindung durch zwei feste Treppen und zwei Fahrtreppen (eine auf- und eine abwärtsführende Treppe); verschließbar mit Schiebetor …”.Nur so kann man dann unter “Barrierefreiheit” auch schreiben: “Alle Treppenanlagen sind zusätzlich mit Fahrtreppen ausgestattet. Die S-Bahn-Station ist über zwei Aufzüge erreichbar. Die gesetzlichen Vorschriften zur Barrierefreiheit werden vollumfänglich eingehalten.”

Im März hatten Külow und Pellman übrigens vorsorglich schon einmal angefragt, ob im und am City-Tunnel auch wirklich alles barrierefrei ist. Sven Morlok betonte damals: “Die Staatsregierung geht davon aus, dass die fünf Stationen des City-Tunnels und deren Zugangsmöglichkeiten zur Inbetriebnahme vollständig den Anforderungen der Barrierefreiheit entsprechen.” Der Übergang zum Hauptbahnhof kommt hier nicht vor. Aber Morlok betonte auch, der Behindertenbeauftragte der Stadt sei auch in die frühe Planungsphase einbezogen gewesen.

Und da wird es spannend. Denn wenn beschlossen war, da sind Rolltreppen von der Verteilerebene zum Hauptbahnhofsgebäude, warum fehlen sie dann heute?

Und ein Blick auf die damals mitbeschlossene Karte zeigt: Genau da, wo heute nur eine neunstufige breite Treppe ist, waren 2006 – wie im Stadtratsbeschluss formuliert – zwei Treppen und zwei Rolltreppen vorgesehen. Und nicht nur das: Auch der Bereich, für den die Stadt Leipzig verantwortlich ist, war grün eingemalt – vom Aufgang an der Nikolaistraße bis zu den Eingangstüren der Promenaden Hauptbahnhof. Die vier geplanten Treppen befinden sich eindeutig im Leipziger Teil.

Sind sie einfach so durchs Raster der Aufmerksamkeit gefallen? Oder hat da jemand eine kleine Einsparmöglichkeit entdeckt? Denn unübersehbar sieht der Übergang heute nicht so aus, wie er 2006 beschlossen wurde.

Die Antwort von Sven Morlok auf die Fagen von Volker Külow: http://edas.landtag.sachsen.de/viewer.aspx?dok_nr=12550&dok_art=Drs&leg_per=5&pos_dok=2

Der Vertragstext von 2006: http://notes.leipzig.de/appl/laura/wp4/kais02.nsf/docid/75D8A7038B10CF44C12570ED00492D3B/$FILE/IV-ds-1459-anlage-1.pdf

Der Leipziger Beschluss von 2006: http://notes.leipzig.de/appl/laura/wp4/kais02.nsf/docid/7E62B60211D211A4C125712B00452DB6/$FILE/IV-rb-528-text.pdf

Die Auskunft des Verkehrsministers vom März 2013 zur Barrierefreiheit im City-Tunnel: http://edas.landtag.sachsen.de/viewer.aspx?dok_nr=11438&dok_art=Drs&leg_per=5&pos_dok=2

Die Karte als PDF zum download.

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