Vor zehn Jahren schickte sich Leipzig an, Olympiabewerberstadt zu werden. Im Rahmen des Deutschen Turnfestes 2002 wurde das Wohnhaus "Turnvaters" Ferdinand Goetz (1826-1915) an der Lützner Straße neu eröffnet. Die Hoffnung auf einen regionalen Erinnerungsort erfüllte sich nicht. Ein Interview mit Rainer Brechtken, Präsident des Deutscher Turner-Bundes.
Herr Brechtken, mittlerweile schläft das Leipziger Goetz-Haus in der Lützner Straße 11 seit fast eineinhalb Jahren wieder einen Dornröschenschlaf. Was war das damals für Sie für ein Gefühl, als Sie zum Deutschen Turnfest im Mai 2002 die Wiedereröffnung des Goetz-Hauses in Leipzig vornehmen konnten?
Ich habe mich sehr gefreut, dass in Leipzig mit großem Engagement das Goetz-Haus wieder geöffnet werden konnte, um die Erinnerung an das Goetz-Haus als Zentrum der Deutschen Turnerschaft seit 1868 und an Ferdinand Goetz, den langjährigen Vorsitzenden (1895-1915) und Mitgründer der Deutschen Turnerschaft wach zu halten.
Welche Hoffnungen verbanden Sie mit dem Projekt Goetz-Haus?
Die Turnbewegung in Deutschland mit ihrer 200-jährigen Geschichte hat viele bedeutende Erinnerungsorte: unter anderem die Hasenheide in Berlin mit der Gründung des Turnplatzes 1811, Schnepfenthal als Wirkungsstätte von GutsMuths, Lanz bei Lenzen und Freyburg an der Unstrut mit Jahn, das Hambacher Schloss und die Frankfurter Paulskirche mit der Revolution von 1848, Hanau als Gründungsort des DTB 1848, Coburg mit dem 1. Deutschen Turnfest 1860, Berlin mit der Deutschen Turnschule der DT, Frankfurt am Main mit der Entwicklung des DTB nach 1945.
Dazu zählt auch Leipzig als Ausrichter von Turnfesten, sowohl in der Zeit der Deutschen Turnerschaft als auch in der DDR-Sportgeschichte bis in die heutige Zeit mit dem Turnfest 2002. Diese Orte der Erinnerung werden getragen und gepflegt durch Initiative und Engagement von einzelnen Personen und Institutionen vor Ort.
Für das Goetz-Haus in Leipzig hatte ich eine solche Entwicklung als regionaler Ort der Erinnerung auch erhofft. Nach meinem Eindruck 2002 lief es auch gut an mit entsprechendem Enthusiasmus. Allerdings muss ich gestehen, dass ich seither die Entwicklung nicht sehr intensiv verfolgt habe.
Welche Rolle spielt die Tradition der von Ferdinand Goetz repräsentierten Deutschen Turnerschaft im heutigen Selbstverständnis des DTB?
Es ist schwierig, Vergleiche zu ziehen zwischen völlig unterschiedlichen historischen und gesellschaftlichen Zusammenhängen. Aber wenn Ferdinand Goetz die Deutsche Turnerschaft als Zusammenschluss aller Turnvereine gesehen hat, um sich im Zuge der Selbsthilfe gemeinsam zu unterstützen und als gesellschaftliche Bewegung sichtbar zu werden, dann gibt es hier durchaus Parallelen.
Den Kern der Turnbewegung heute bilden die Turnvereine und Turnabteilungen mit ihren Angeboten im Kinderturnen, mit Training und Wettkampf in verschiedenen Turn-Sportarten, mit Fitness- und Gesundheitssportangeboten für alle Altersgruppen bis ins hohe Alter unter der Marke “Gymwelt”.
Der Deutsche Turner-Bund und seine Untergliederungen verstehen sich als Dienstleister und Interessenvertreter, die ihre Mitgliedsvereine im Rahmen der Selbsthilfe unterstützen, qualitativ hochwertige und bedürfnisgerechte Bewegungsangebote zu präsentieren. Dies geschieht in Form von Aus- und Fortbildung für Übungsleiter, Trainer und Kampfrichter, durch ein vielseitiges Angebot an Wettkämpfen und natürlich durch Organisation von Turnfesten als gesellschaftliche Großveranstaltungen.
Die Turner des 19. Jahrhunderts pflegten das Wehrturnen. In ihrem Jahreskalender nahm der 18. Oktober, der Jahrestag des Sieges über Napoleon I. in der Völkerschlacht 1813 bei Leipzig, lange eine wichtige Rolle ein. Im Kaiserreich trat auch für die Turner der sogenannten Sedantag am 2. September in den Vordergrund, in dem an den Sieg 1870 über Napoleon III. im zeitgenössischen Duktus erinnert wurde. Sehen Sie für den DTB hier irgendwelche Anknüpfungspunkte?
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Die 200-jährige Geschichte der Turnbewegung muss sich in jeder Phase ihrer Entwicklung immer vor dem Hintergrund der jeweiligen gesellschaftspolitischen Verhältnisse beleuchten und bewerten lassen. Der Deutsche Turner-Bund heute steht mitten im 21. Jahrhundert und sieht sich satzungsgemäß verpflichtet in der Anerkennung der Menschenrechte, der parteipolitischen Neutralität, religiöser und weltanschaulicher Toleranz sowie in der Berücksichtigung der Vielfalt an Lebensformen und Kulturen.
Entsprechend nimmt der Deutsche Turner-Bund natürlich aktuelle gesellschaftspolitische Entwicklungen auf in seine vielseitigen Aufgaben. So hat der DTB beispielsweise dem Zeitalter des Zusammenwachsens in Europa Rechnung getragen, indem das Deutsche Turnfest – nicht nur symbolisch – umbenannt wurde in Internationales Deutsches Turnfest.
Des Weiteren sind hier beispielhaft auch die vielfältigen Bemühungen der Turnbewegung zur Integration verschiedener Bevölkerungsgruppen in die Gesellschaft zu nennen. Die Turnbewegung heute steht also mitten in unserer freiheitlich-demokratischen Gesellschaft.
Vielen Dank für das Gespräch.
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