Das Bundesverfassungsgericht hat im April ein historisches Urteil gefรคllt: Das 2019 verabschiedete deutsche Klimaschutzgesetz ist in Teilen nicht mit den Grundrechten vereinbar. Die Verfassungsbeschwerden mehrerer Klimagruppen waren mit diesem Beschluss teils erfolgreich. Es fehlten ausreichende Vorgaben fรผr die Minderung der Emissionen ab dem Jahr 2031, so die Karlsruher Richter/-innen.

Bei der Entscheidung bezieht sich das Gericht auf Artikel 20a des Grundgesetzes. Darin heiรŸt es: โ€žDer Staat schรผtzt auch in Verantwortung fรผr die kรผnftigen Generationen die natรผrlichen Lebensgrundlagen und die Tiere im Rahmen der verfassungsmรครŸigen Ordnung durch die Gesetzgebung und nach MaรŸgabe von Gesetz und Recht durch die vollziehende Gewalt und die Rechtsprechung.โ€œ Das Argument der Generationengerechtigkeit bezieht sich auf eine Berechnung des Sachverstรคndigenrates fรผr Umweltfragen (SRU). Dieser legte das nationale Emissionsbudget auf 6,7 Gigatonnen fest. Der SRU geht hierbei zwar recht willkรผrlich von einer Erderwรคrmung um 1,75 Grad Celsius aus โ€“ was nicht dem 1,5-Grad-Ziel des Pariser Klimaabkommens entspricht. Dennoch begrรผรŸten viele Klimaaktivist/-innen das Urteil.

Keine acht Wochen nach dem historischen Beschluss legte die Bundesregierung ein novelliertes Klimaschutzgesetz vor. Eigentlich wรคre nach der Karlsruher Entscheidung bis Ende 2022 Zeit gewesen, die Mรคngel zu beheben. Mitte Juli passierte die Neufassung den Bundestag mit den Stimmen der GroรŸen Koalition.

Im neuen, verschรคrften Gesetz ist nun das nationale Ziel verankert, bis 2045 statt 2050 treibhausgasneutral zu werden; also ab dann nicht mehr Kohlendioxid auszustoรŸen, als vor allem รผber Wรคlder absorbiert wird. Um das zu erreichen, sollen die jรคhrlichen Einsparvorgaben fรผr Kraftwerke, Industrie, Verkehr, Landwirtschaft und Gebรคude verschรคrft werden.

Auch das Emissionsziel bis 2030 wird hochgeschraubt. Deutschland soll nun bis dahin seine Treibhausgasemissionen im Vergleich zu 1990 um mindestens 65 Prozent senken. Das alte Klimagesetz sah ein Minus von mindestens 55 Prozent vor. AuรŸerdem soll ein Sofortprogramm im Umfang von acht Milliarden Euro aufgelegt werden.

โ€žAls klar war, dass die alte Koalition das Gesetz noch vor der heiรŸen Phase im Wahlkampf neu fassen will, haben wir uns natรผrlich nichts erhofftโ€œ, so Tino Supplies vom Leipziger Umweltbund ร–kolรถwe. Ein Teil der Regierungskoalition bremse wirksamen Klimaschutz โ€“ darunter die Energiewende, die Agrarwende und die Verkehrswende. โ€žDas vorgelegte Gesetz hat das bestรคtigt. Es entsteht eher der Eindruck, hier will jemand ein unliebsames Thema abrรคumen, bevor es wahlentscheidend wird.โ€œ

Die Leipziger Zeitung, Ausgabe 93. Seit 30. Juli 2021 im Handel. Foto: LZ

Auch Reimund Schwarze, klimapolitischer Sprecher des Helmholtz-Zentrums fรผr Umweltforschung (UFZ) in Leipzig, bestรคtigt diese Sichtweise: โ€žDas Bundesverfassungsgericht hat keinen dazu verpflichtet, innerhalb von zwei Monaten eine Neuerung vorzulegen. Insofern war die schnelle ร„nderung wahrscheinlich wahlkampfpolitisch getrieben.โ€œ Er hรคtte sich eine wissenschaftliche Herangehensweise gewรผnscht: Nach der konkreten Zielsetzung sollten Probleme evaluiert und Lรถsungsansรคtze betrachtet werden. Im Ergebnis schlรคgt man dann ein MaรŸnahmenpaket vor.

โ€žEs reicht nicht, einfach nur neue Ziele zu formulierenโ€œ, heiรŸt es seitens des ร–kolรถwen. โ€žWir kennen dieses Spiel ja seit Jahren auch auf lokaler Ebene. Auch die Stadt Leipzig hat schon ganz lange, ganz tolle Umweltqualitรคtsziele. Doch MaรŸnahmen, die die Einhaltung dieser Ziele garantieren, werden nicht oder nur schleppend umgesetzt.โ€œ

Tom Richter von der Fridays-For-Future-Ortsgruppe Leipzig malt ein รคhnliches Bild: โ€žDas neue Klimaschutzgesetz der Bundesregierung ist zwar ein Schritt in die richtige Richtung. Konkrete MaรŸnahmen werden aber auf die lange Bank geschoben und es werden vor allem Interessen groรŸer Industriezweige bedient.โ€œ

Doch das Problem liegt nicht nur in der voreiligen ร„nderung des Klimaschutzgesetzes. Das Urteil des Verfassungsgerichtes lรคsst durch die vage Formulierung viel Interpretationsspielraum. So ist eine rechtssichere Umsetzung des Beschlusses fast unmรถglich.

Die Richter/-innen gaben zwar an, dass es verfassungswidrig sei, das gesamte Emissionsbudget jetzt schon aufzubrauchen und damit den kรผnftigen Generationen eine Klimaschutzpolitik aufzudrรคngen, die massiv Grund- und Freiheitsrechte einschrรคnken mรผsste. Wie genau jedoch eine gerechte Aufteilung aussieht, lieรŸ Karlsruhe offen.

Ob das novellierte Klimaschutzgesetz dem Urteil genรผgt, lรคsst sich derzeit nur vermuten. UFZ-Klimaforscher Reimund Schwarze sieht jedoch noch ein weiteres Problem: โ€žIch sehe durch das neue Klimaschutzgesetz nicht, dass รผberhaupt der Green Deal der EU vollstreckt werden kann. Es muss ja nicht nur das Bundesverfassungsgerichtsurteil bedient werden; wir sind ja auch Teil der Europรคischen Union.โ€œ

Seiner Meinung nach hรคtte man das gelungene MaรŸnahmenpaket des Green Deals auf nationaler Ebene รผbernehmen kรถnnen: โ€žEs brauchte jetzt kein deutsches Mรถchtegern-Musterschรผler-Gesetz.โ€œ

Schwarze hofft darauf, dass die neue Bundesregierung die Ziele mit Sorgfalt umsetzt โ€“ und sich dabei neben dem Ausbau der erneuerbaren Energien auf die Senkenkapazitรคt (Aufnahmefรคhigkeit der Bรคume und Pflanzen fรผr CO2) der Wรคlder fokussiert. Derzeit werden von verschiedenen Klimagruppen erneute Verfassungsklagen vorbereitet, damit das Bundesverfassungsgericht sein Urteil noch einmal konkretisiert.

โ€žWahlkampf oder Umweltpolitik? Warum das neue Klimaschutzgesetz vorne und hinten nicht reichtโ€œ erschien erstmals am 30. Juli 2021 in der aktuellen Printausgabe der Leipziger Zeitung (LZ). Unsere Nummer 93 der LZ finden Sie neben GroรŸmรคrkten und Presseshops unter anderem bei diesen Szenehรคndlern.

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