Die Mehrzahl der Seltenen Erkrankungen ist genetisch verursacht. Die zugrundeliegende Erbgutveränderung kann immer besser beispielsweise durch die so genannten Exom-Sequenzierung (ES) gefunden werden und so zu einer molekulargenetischen Diagnosestellung führen. Die ES ist eine Untersuchung aller Abschnitte unserer Erbsubstanz (DNA), die Proteine kodiert.

Im Rahmen einer deutschlandweiten multizentrischen Studie wurden von 1.577 Patient*innen ES-Daten erhoben und systematisch ausgewertet. Hierdurch konnte bei insgesamt 499 Patient*innen eine Diagnose gestellt werden, wobei 34 Betroffene neue, bis zu diesem Zeitpunkt unbekannte genetische Erkrankungen zeigten. Somit trägt die Studie wesentlich zur Erstbeschreibung neuer Erkrankungen bei.

Zudem wurde erstmals in der Breite eine auf dem Einsatz der Künstlichen Intelligenz (KI) beruhende Software zur Unterstützung der klinischen Diagnosestellung eingesetzt. Das KI-System „GestaltMatcher“ kann bei der Beurteilung von Gesichtsmerkmalen hinsichtlich der Zuordnung zu angeborenen genetischen Syndromen unterstützen. Die Ergebnisse der Studie, an der 16 universitäre Standorte, darunter das Universitätsklinikum Leipzig (UKL), beteiligt waren, sind jetzt in der renommierten Fachzeitschrift „Nature Genetics“ veröffentlicht.

Ultra-seltene Krankheiten erfordern für die optimale Betreuung sowohl multidisziplinäres klinisches Fachwissen als auch eine umfassende genetische Diagnostik. Um die Versorgung Betroffener mittels moderner Diagnosekonzepte zu verbessern, begann Ende 2017 das dreijährige Innovationsfonds-Projekt TRANSLATE NAMSE. Die Forschenden von 16 Unikliniken analysierten die ES-Daten von 1.577 Patienten, davon 1.309 Kinder, die im Rahmen von TRANSLATE NAMSE an Zentren für Seltene Erkrankungen vorgestellt wurden.

Ziel des Projektes war es, mittels innovativer Untersuchungsmethoden bei möglichst vielen Patienten eine Erkrankungsursache zu finden. Bei 499 Patient*innen, davon 425 Kinder, konnte eine genetische Ursache der Seltenen Erkrankung festgestellt werden. Insgesamt fanden die Forschenden Veränderungen in 370 verschiedenen Genen.

„Besonders stolz sind wir auf die Entdeckung von 34 neuen molekularen Erkrankungen, die ein schönes Beispiel für die wissensgenerierende Krankenversorgung an Unikliniken sind“, sagt Dr. Theresa Brunet, eine der Erstautor*innen vom Institut für Humangenetik des Klinikums rechts der Isar der Technischen Universität München.

Zu diesem Erfolg haben die Kolleg:innen der Leipziger Universitätsmedizin relevant beigetragen. „Unsere große Datenbank mit über 10.000 Datensätzen von Betroffenen, die ähnlich wie bei TRANSLATE NAMSE untersucht worden sind, ermöglichte die erforderlichen Validierungskohorten für die genetischen als auch computer-basierten Bildanalysen“, erläutert Professor Rami Jamra, Leiter der Genetischen Diagnostik am Institut für Humangenetik des Universitätsklinikums Leipzig.  

Wie geht es weiter mit den noch ungelösten Fällen?

„Die Betroffenen, für die wir bisher keine Diagnose finden konnten, werden wir im Rahmen des Modellvorhabens GenomSequenzierung, kurz MVGenomSeq, untersuchen.“ sagt Dr. Tobias Haack, Stellv. Direktor des Instituts für Medizinische Genetik und Angewandte Genomik am Universitätsklinikum Tübingen. Das MVGenomSeq baut auf den Erfolgen des TRANSLATE NAMSE Projektes auf und ermöglicht deutschlandweit die Analyse klinischer Genome an Unikliniken, auch am UKL.

Ungelöste Fälle können außerdem in Folgestudien mittels neuer Untersuchungsmethoden, wie zum Beispiel der sogenannten long-read Sequenzierung, die eine Analyse von viel längeren DNA-Fragmenten erlaubt, untersucht werden.

„Die long-read-Sequenzierung ermöglicht es uns, schwer erkennbare genetische Veränderungen zu finden und wir gehen davon aus, dass wir mit diesem Verfahren weitere Diagnosen stellen können“ sagt Dr. Nadja Ehmke, Leiterin der Genomdiagnostik am Institut für Medizinische Genetik und Humangenetik der Charité und eine der Letztautor*innen.

Im Rahmen des TRANSLATE NAMSE Projektes wurden auch standardisierte Abläufe zur erweiterten genetischen Diagnostik bei Verdacht auf seltene Erkrankungen an den beteiligten Zentren für Seltene Erkrankungen etabliert, die auf interdisziplinären Fallkonferenzen beruhen. Diese wurden nach Projektabschluss in die Regelversorgung übernommen.

„Die interdisziplinären Fallkonferenzen spielen für Betroffene eine wichtige Rolle. Dadurch wird eine umfassende klinische Charakterisierung ermöglicht, die für die Phänotyp-basierte Auswertung der genetischen Daten relevant ist. Darüber hinaus können so die nachgewiesenen Varianten im Kontext der Fragestellung interdisziplinär diskutiert werden“, sagt Dr. Magdalena Danyel, eine der Erstautor*innen, die als Fachärztin des Instituts für Medizinische Genetik und Humangenetik und Fellow des Clinician Scientist Programm des Berlin Institute of Health (BIH) an der Charité – Universitätsmedizin arbeitet.

Seltene genetische Erkrankungen lassen sich teils am Gesicht erkennen

Des Weiteren gingen die Forschenden der Frage nach, ob der ergänzende Einsatz von Werkzeugen des maschinellen Lernens und der künstlichen Intelligenz (KI) die diagnostische Effektivität und Effizienz verbessert. Hierzu wurde die von Bonner Forschenden entwickelte Software „GestaltMatcher“, die mittels computergestützter Gesichtsanalyse die anwendende Person bei der Diagnosestellung Seltener Erkrankungen unterstützt, erstmals in der Breite ausgetestet.

In der Studie wurden die Sequenz- und Bilddaten von 224 Personen genutzt, die auch der computergestützten Analyse ihrer Gesichtsbilder zugestimmt hatten, und es konnte gezeigt werden, dass die KI-gestützte Technik einen klinischen Nutzen erbringt.

Die KI GestaltMatcher kann Auffälligkeiten im Gesicht erkennen und bestimmten Erkrankungen zuordnen. Eine wichtige Frage bei der Beurteilung von genetischen Daten ist: Passt der Phänotyp zum Genotyp? Hierbei kann die KI unterstützen.

„GestaltMatcher ist wie eine Expertenmeinung, die wir jeder ärztlich tätigen Person in Sekundenschnelle zur Verfügung stellen können. Der frühe Zeitpunkt der Diagnosestellung ist für die Betroffenen seltener Erkrankungen und deren Familien von essentieller Bedeutung. Ein unterstützender Einsatz der Software durch Kinderärztinnen und -ärzten könnte bereits bei Auffälligkeiten während der Kindervorsorgeuntersuchungen U7 mit 21 bis 24 Monaten oder U7a mit 34 bis 36 Monaten sinnvoll sein“, sagt Korrespondenzautor Prof. Peter Krawitz, Direktor des Instituts für Genomische Statistik und Bioinformatik (IGSB) am Universitätsklinikum Bonn (UKB), an dem die KI GestaltMatcher entwickelt wird.

Prof. Krawitz ist auch Mitglied im Exzellenzcluster ImmunoSensation2 sowie in den Transdisziplinären Forschungsbereichen (TRA) „Modelling“ und „Life & Health“ der Universität Bonn. Die Software und App kann durch die gemeinnützige Arbeitsgemeinschaft für Gen-Diagnostik e.V. (AGD) allen Ärzt*innen bereitgestellt werden.

Beteiligte Institutionen:

Neben dem Universitätsklinikum Bonn (UKB) und der Universität Bonn waren die Charité-Universitätsmedizin Berlin, Klinikum rechts der Isar der Technischen Universität München (TUM), Universitätsklinikum Düsseldorf, Ruhr Universität Bochum, Universitätsklinikum Dresden, Universitätsklinikum Essen, Universitätsklinikum Halle, Universitätsklinikum Hamburg Eppendorf, Universitätsklinikum Heidelberg, Universitätsklinikum Schleswig Holstein, LMU Klinikum München, Uniklinik RWTH Aachen, Universitätsklinikum Leipzig, Universitätsklinikum Tübingen und Stellenbosch University, Kapstadt, Südafrika beteiligt 

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