Ein Marokkaner wurde aus Chemnitz abgeschoben, obwohl das Verwaltungsgericht dies untersagt hatte. Nach Angaben seiner Anwältin haben sich die Verantwortlichen der Stadt Chemnitz und der Landesdirektion Sachsen dem Gerichtsbeschluss widersetzt. Die Sachbearbeiterinnen erklärten, sie fühlten sich nicht an den Beschluss gebunden und weigerten sich, ihn an die Bundespolizei weiterzuleiten.
Der marokkanische Staatsangehörige M.N., der mit einer deutschen Staatsangehörigen verheiratet ist und mit ihr Kinder hat, wurde am Donnerstag (11.07.24) nach Marokko abgeschoben. Unmittelbar vor der Abschiebung hatte das Verwaltungsgericht Chemnitz entschieden, die Abschiebung des Mannes bis zur Entscheidung über seinen Antrag auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis auszusetzen. Trotz hartnäckiger Anrufe von Rechtsanwältin Inga Stremlau bei den zuständigen Behörden der Stadt Chemnitz und der Landesdirektion Sachsen wurde die Abschiebung nicht gestoppt.
Sachbearbeiterin „fühlt sich nicht gebunden“
M.A. wurde am Tag der Abschiebung von der Bundespolizei zum Flughafen Frankfurt/Main gebracht. Nach dem Eilbeschluss des VG Chemnitz teilte die Polizei mit, dass sie auf die Information der zuständigen Ausländerbehörde warten und die Abschiebung fortsetzen müsse, wenn diese nicht eintreffe. Was dann geschah, fasst Rechtsanwältin Stremlau wie folgt zusammen:
„Ich habe die zuständige Sachbearbeiterin im Rechtsamt angerufen und sie ließ mitteilen, dass sie sich in der Sache nicht zuständig sehe und den Beschluss an die aus ihrer Sicht zuständige Landesdirektion weitergeleitet habe. Im Übrigen halte sie den Beschluss aber auch für fehlerhaft und er von ihrer Behörde auf keinen Fall einen Aufenthaltstitel erhalten werde, sodass sie gar nicht wisse, warum nun von einer Abschiebung abgesehen werden solle. An den Beschluss fühle sie sich nicht gebunden.
Dann rief ich bei der zuständigen Sachbearbeiterin der Landesdirektion an. Sie ließ wiederum mitteilen, dass sie nicht die Absicht habe, den Beschluss weiterzuleiten. Dieser sei schließlich gegen die Stadt Chemnitz und nicht gegen die Landesdirektion ergangen. Überdies halte sie den Beschluss in der Sache auch für rechtsfehlerhaft und sei der Auffassung, dass die Abschiebung dennoch vollzogen werden könne und sie an die Entscheidung des Gerichts nicht gebunden sei.“
Nun wurde die Rückholung beschlossen
Trotz dieser Telefonate erfolgte keine Weiterleitung des Beschlusses an die Bundespolizei, so dass die Abschiebung um 18:00 Uhr vollzogen wurde. Die Rechtsanwältin beantragte daraufhin beim Verwaltungsgericht Chemnitz die Rückholung ihres Mandanten und es wurde entschieden, dass die Wiedereinreise von Marokko in die Bundesrepublik Deutschland auf Kosten der sächsischen Behörden zu ermöglichen sei. Wann und wie die Rückholung erfolgen soll, ist jedoch noch unklar.
Rechtsanwältin Inga Stremlau beschreibt die Situation als entsetzlich und fährt fort: „Ich bin ein großer Freund unseres Rechtsstaates. Als Anwältin neige ich eigentlich nicht zu emotionalen Ausbrüchen. Aber in diesem Fall war es wirklich schwer.“
Stremlau betont, dass sowohl ein rechtskräftiges Gerichtsurteil zum Abschiebeverbot, als auch Artikel 6 des Grundgesetzes missachtet werden und fasst die nächsten Schritte zusammen: „Wenn sie sich weiterhin nicht an die Anordnung halten, werde ich erneut das Gericht einschalten und Zwangsgelder beantragen. Das Wichtigste ist erst einmal, dass mein Mandant so schnell wie möglich zurückkommt.
Mit der Abschiebung wird ihm auch die Möglichkeit genommen, ein normales Visumsverfahren zu durchlaufen. Gleichzeitig muss ich sagen, dass ich als Anwältin so entsetzt bin, dass ich mich frage, ob man die Verantwortlichen in die Pflicht nehmen kann – eventuell wegen Rechtsbeugung oder ähnlichem.“
Exekutive gegen Judikative?
Osman Oğuz, Sprecher des Sächsischen Flüchtlingsrates, weist auf die Kontinuität der von Fehltritten der Chemnitzer Behörden hin und sagt: „Das ist allerdings eine neue Qualität. Worauf können wir uns verlassen, wenn selbst ein Gerichtsurteil missachtet wird? Das ist möglicherweise kein Zufall: An diesem Beispiel zeigen die Behörden, wohin der gefährliche Abschiebediskurs führen kann. Am Ende werden nicht nur (menschen-)rechtswidrige Abschiebungen banalisiert, sondern auch Verstöße gegen Rechtsstaatlichkeit.
Dies klingt nach Wunschdenken rechtspopulistischer Kräfte, demokratische Prozesse und Strukturen auszuhöhlen. Rechtsmissachtung darf keine Normalität werden und deshalb muss dieser Vorgang aufgeklärt werden und deutliche Konsequenzen nach sich ziehen. Darüber hinaus fordern wir die schnellstmögliche Rücknahme des Abgeschobenen, die ohne aktive Beteiligung der deutschen Behörden nicht möglich ist.“
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