Der Ausschuss für Schule und Bildung des Sächsischen Landtages hat gestern in einer öffentlichen Anhörung Sachverständige zum aktuellen Stand der schulischen Inklusion in Sachsen geladen. Anlass war der Bericht des Kultusministeriums zur Umsetzung der Inklusion.
Dieser widmet sich unter anderem dem Stand des Aufbaus sogenannter Kooperationsverbünde und den Erfahrungen der Grundschulen, die im Rahmen einer Pilotphase auf die Feststellung eines sonderpädagogischen Förderbedarfs in den Förderschwerpunkten Lernen sowie emotionale und soziale Entwicklung vor der Einschulung und in Klassenstufe 1 verzichten.
Dazu erklärt Christin Melcher, bildungspolitische Sprecherin der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen im Sächsischen Landtag:
„Die Ausweitung und Weiterentwicklung der schulischen Inklusion hat viele Mitstreiterinnen und Mitstreiter. Sie ist für uns Bündnisgrüne ein zentraler bildungspolitischer Auftrag der Koalition. Dazu zählt auch die Zielsetzung, die sogenannten Kooperationsverbünde weiter auszubauen und zu verstetigen, um eine wohnortnahe, inklusive Unterrichtung in allen Förderschwerpunkten zu ermöglichen.“
„Die Pilotphase zum Diagnostikverzicht stand und steht aufgrund der Corona-Pandemie unter keinem guten Stern. So konnten weder weitere Erfahrungen im lernzieldifferenten Unterricht gesammelt noch diagnostische Methoden und Materialien erprobt werden. Fachtagungen und Schulbesuche konnten nicht wie geplant stattfinden und die personellen Ressourcen der Schulen waren pandemiebedingt minimiert. Die Beschulung im Präsenzunterricht ist laut Einschätzung des Instituts für regionale Innovation und Sozialforschung für die Berichterstattung aber eine unerlässliche Grundlage. Ich hätte mir gewünscht, dass das Kultusministerium diese Einschätzung und die schwierigen Rahmenbedingungen der Pilotphase in seinem Fazit stärker berücksichtigt.“
In seinem Berichtsteil bilanziert das Kultusministerium, dass eine flächendeckende Übertragung der Pilotphase weder fachlich noch personell und auch nicht finanziell verantwortet werden kann und eine Änderung des Schulgesetzes dringend erforderlich sei. Prof. Dr. Katrin Liebers, die als Sachverständige in der Anhörung geladen war, warb dafür, mit Blick auf die Pilotphase ein „Fenster offen zu lassen“ – auch, um den begonnenen Lernprozess nicht einfach auslaufen zu lassen.
Eine sonderpädagogische Diagnostik, im Sinne einer Förderdiagnostik, sollte von Beginn an möglich sein; gleichzeitig müsse aber auch die sonderpädagogische Förderung gewährleistet werden. In dieser Richtung könnte die Pilotphase neu konzipiert werden, etwa auch an ausgewählten Schulen oder in Modellregionen.
„Aus Bündnisgrüner Sicht brauchen wir unabhängig von einem attestierten sonderpädagogischen Förderbedarf mehr individuelle Förderung für alle Schülerinnen und Schüler sowie mehr Kompetenz im Umgang mit Heterogenität in allen Schularten – gerade auch an Grundschulen mit Blick auf die Schuleingangsphase. Der Mangel an ausgebildeten Sonderpädagoginnen und -pädagogen ist unverändert enorm, insbesondere im ländlichen Raum. Um dem zu begegnen, muss die Ausbildung attraktiver gestaltet und stärker in die Fläche gebracht werden. Daneben brauchen wir aber auch mehr sonderpädagogisches Knowhow in allen Lehrämtern, etwa im Bereich Diagnostik.“
„Aus Sicht von uns Bündnisgrünen muss ein Verzicht auf die Feststellungsdiagnostik zwingend mit zusätzlichen Ressourcen für die Schulen verknüpft werden. Dabei sollten wir nicht auf das Gießkannenprinzip, sondern auf einen Sozialindex setzen – und damit auf eine stärkere Berücksichtigung sozialräumlicher Kriterien und der Zusammensetzung der Schülerschaft. Inklusion hängt auch, aber bei weitem nicht nur an Ressourcen. Wir sollten genau hinschauen, wie weit der tatsächliche Bedarf reicht und wo die Ausflüchte beginnen.“
„Wir Bündnisgrüne wollen flächendeckend die notwendigen organisatorischen, personellen und sächlichen Voraussetzungen für inklusiven Unterricht schaffen. Deshalb unterstützen wir ausdrücklich die Ausweitung der lernzieldifferenten Unterrichtung auf Gymnasien, wie im Bericht vorgeschlagen. Dies muss bei der anstehenden Schulgesetzänderung berücksichtigt werden.“
Hintergrund:
Im Schulgesetz heißt es in § 4c Abs. 3 Satz 4 und 5: „An Grundschulen und Gemeinschaftsschulen soll ein Feststellungsverfahren für die Förderschwerpunkte Lernen sowie emotionale und soziale Entwicklung grundsätzlich frühestens im Verlauf der zweiten Klasse eingeleitet werden. Zur personellen Unterstützung in der Schuleingangsphase sollen öffentliche und freie Träger von Grundschulen und Gemeinschaftsschulen pauschalisierte zweckgebundene Zuweisungen erhalten.“
In § 64 Abs. 8 ist festgelegt: „§ 4c Absatz 3 Satz 4 und 5 gilt bis 31. Juli 2023 nur für ausgewählte Schulen mit Primarstufe, die sich im Rahmen einer Pilotphase aufgrund eines von der Schulkonferenz beschlossenen Konzeptes mit Zustimmung der Schulaufsichtsbehörde bereit erklärt haben, auch Schüler mit möglichem sonderpädagogischen Förderbedarf in den Förderschwerpunkten Lernen sowie emotionale und soziale Entwicklung zu unterrichten und die Entwicklung des Schülers in der Klassenstufe 1 in das Feststellungsverfahren für diese Förderschwerpunkte einzubeziehen.“
In § 64 Abs. 10 wird festgelegt, dass der Landtag bis zum 30. Juni 2022 über eine Verlängerung der Pilotphase entscheiden muss.
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