Bisherige Ansätze, kulturelle Vielfalt an Schulen zu thematisieren, können Vorurteile verstärken anstatt sie abzubauen. Das legt eine Studie unter Leitung von Forschenden der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg (MLU) und der Universität Potsdam nahe.
In einer Befragung von mehr als 1.300 Schülerinnen und Schülern fand das Team auch heraus, dass ein nuancierter Umgang mit dem Thema diese negativen Effekte abfangen könnte: Kulturen sollten weniger schematisch und anhand von plakativen Beispielen, sondern als dynamisch, individuell und vielfältig besprochen werden. Die Ergebnisse erschienen in der Fachzeitschrift „Contemporary Educational Psychology“.
Seit dem Sommer 2015 sind viele Geflüchtete nach Europa gekommen, darunter auch zahlreiche Kinder und Jugendliche. Laut Statistischem Bundesamt leben etwa 300.000 von ihnen heute in Deutschland. „Spätestens seit dieser Zeit sind Schulen bemüht, die kulturelle Vielfalt in Deutschland auch im Unterricht zu thematisieren. Je nach Bundesland und Kommune sind diese Ansätze aber sehr unterschiedlich weit entwickelt“, sagt Prof. Dr. Maja Schachner vom Institut für Pädagogik der MLU, die die neue Studie geleitet hat.
Häufig kommt laut Schachner ein multikultureller Ansatz zum Tragen: „Dabei geht es vereinfacht gesagt darum, sich auf positive Weise mit verschiedenen Kulturen auseinanderzusetzen und so Vorurteile zu überwinden. Vielfalt soll als Ressource dargestellt und auch bewusst im Unterricht thematisiert werden“, erklärt die Forscherin.
Das passiere aktuell etwa, indem über verschiedene kulturelle Feste gesprochen wird, die in den Familien der Schülerinnen und Schüler gefeiert werden, oder in der Form eines internationalen Frühstücks, bei dem Schülerinnen und Schüler typische Speisen aus ihren Herkunftsregionen mitbringen und sich dazu austauschen. „Allerdings geht es meist nicht über diese Aktionen hinaus. Deshalb wird dieser Ansatz auch als oberflächlich kritisiert“, sagt Schachner.
Für die neue Studie befragten die Forschenden mehr als 1.300 Schülerinnen und Schüler der neunten Klasse in Berlin nach ihren Erfahrungen im Umgang mit kultureller Vielfalt. Die Jugendlichen sollten zum Beispiel darüber berichten, wie das Thema bei ihnen an der Schule behandelt wird. Außerdem gaben sie an, ob und wie häufig sie oder ihre Mitschülerinnen und -schüler aufgrund ihrer Herkunft diskriminiert werden. „In den Klassen, in denen ein multikultureller Ansatz verwendet wurde, wurden auch mehr Diskriminierungserfahrungen gemeldet“, fasst Schachner zusammen.
Eine mögliche Begründung dafür könnte sein, dass einfache Darstellungen von Kultur stärker zu Schubladendenken führen, welches wiederum Vorurteile begünstigt, so die Psychologin. Wurden Kulturen im Unterricht dagegen eher als sich ständig verändernd, dynamisch und sehr vielfältig vermittelt, konnten die Forschenden denselben Zusammenhang mit Diskriminierung nicht finden.
„Unsere Arbeit ist die erste, groß angelegte Studie, die zeigt, dass ein polykultureller Ansatz in der Schule, der Kultur als dynamisch, vielfältig und individuell versteht, womöglich negative Folgen verhindern oder zumindest abmildern kann, wenn kulturelle Vielfalt thematisiert wird“, sagt Schachner weiter. Für die konkrete Unterrichtspraxis würde das nicht unbedingt einen Mehraufwand für die Lehrerinnen und Lehrer bedeuten.
„Vielmehr ist es eine Frage der Perspektive: In Bezug auf Kultur gibt es keine einfachen Antworten, wie das in anderen Bereichen der Fall ist. Das macht den Umgang damit schwierig. Diese Unsicherheit sollte im Unterricht auch angesprochen werden“, sagt Schachner.
Gleichzeitig regt die Wissenschaftlerin an, das Thema in möglichst vielen Fächern anzusprechen: „Natürlich ist es in Geographie und Geschichte naheliegender, über unterschiedliche kulturelle Einflüsse zu sprechen, aber auch in den Naturwissenschaften sind solche Bezüge denkbar.“
Zur Studie: Schachner M.K., Schwarzenthal M., Moffitt U., Civitillo S., Juan L. Capturing a nuanced picture of classroom cultural diversity climate: Multigroup and multilevel analyses among secondary school students in Germany. Contemporary Educational Psychology (2021). DOI: 10.1016/j.cedpsych.2021.101971
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