Wissenschafter und Politiker greifen im Zusammenhang mit der Corona-Pandemie immer häufiger auf mathematische Modelle zurück. Damit erklären sie unter anderem, wie schnell sich das Virus ausbreitet. Prof. Dr. Silvia Schöneburg-Lehnert vom Mathematischen Institut der Universität Leipzig und ihr Kollege Prof. Felix Otto vom Max-Planck-Institut für Mathematik in den Naturwissenschaften veröffentlichen zu dieser Thematik die Videoreihe „Die Mathematik hinter der Corona-Berichterstattung“. Geplant sind zunächst fünf Videos. Im Interview erklärt Prof. Schöneburg-Lehnert, warum die Mathematik gerade jetzt besonders gefragt ist.
Frau Prof. Schöneburg-Lehnert, an wen richtet ich konkret, und was ist Ihr Ziel?
Unser politisches System und das Verständnis von unserer Gesellschaft baut darauf, dass alle Bürger stets in der Lage sind, aktuelle Geschehnisse zu bewerten und für sich Schlüsse daraus zu ziehen. Dabei kommt den Medien eine große gesellschaftliche Bedeutung zu. Gerade in der aktuellen Situation kann die Presse es aber den Bürgern nicht ersparen, sich mit verschiedenen mathematischen Konzepten auseinanderzusetzen.
Unser Gefühl ist – und die Erfahrung bestätigt das immer wieder – dass selbst wenn solche Konzepte aus der Schule bekannt sein könnten, diese Teile der Berichterstattung von vielen als Mystik empfunden werden. Dabei wäre es gerade für die Akzeptanz der teilweise drastischen Einschränkungen wichtig, wenn die Bürger die Faktenlage selbst bewerten könnten. Mit unserer Videoreihe wollen wir an das mathematische Handwerkszeug erinnern, welches einem hierbei den Weg bereitet.
Insofern richten sich unsere Videos an alle Bürger unseres Landes. Dabei geht es uns aber weniger um das Vermitteln der mathematischen Techniken, es ist also kein Volkshochschulkurs Mathematik, sondern es geht vielmehr darum zu zeigen, wie weit man mit der richtig angeleiteten Intuition im Verständnis der Mathematik kommen kann.
Inwieweit können mathematische Modelle bei der geplanten Lockerung der Ausgangsbeschränkungen helfen?
Mathematische Modelle sind natürlich ein wichtiges Instrument, um die aktuelle Lage zu verstehen und zu beurteilen. Naturgemäß spiegelt sich das dann auch darin wieder, dass die Wissenschaft der Politik Handlungsempfehlungen auf Grundlage von mathematischen Modellen gibt. Klar ist aber auch, dass die Politik letztlich verschiedene Aspekte berücksichtigen muss.
Man sollte an dieser Stelle auch festhalten, dass weder Herr Otto noch ich Experten auf dem Gebiet der mathematischen Modellierung von Pandemien sind. Wir sehen unsere Aufgabe hier eher darin, breiten Bevölkerungsschichten näher zu bringen, was die mathematischen Aussagen der Experten auf diesem Gebiet bedeuten.
Klar ist ja auch, dass eben jene Experten gerade sehr stark gefordert sind, Ergebnisse zu erzeugen. Dabei werden übliche wissenschaftliche Standards derzeit stark gefordert. Wissenschaft lebt von der Gewissheit und Exaktheit, die aber Zeit brauchen, die wir gerade nicht haben. Der Diskurs, der gewöhnlich innerhalb einer Disziplin geführt wird, wird zurzeit unter hohem Zeitdruck sehr öffentlich geführt. Wir können und wollen hier gar nicht wertend eingreifen.
Deshalb beschränken wir uns auf die mathematischen Aspekte und überlassen die Bewertung der aktuellen Situation mit Hilfe dieser Aspekte den Bürgern selbst. Um aber nochmals auf die Frage zurück zu kommen: Mathematische Modelle sind vor allem eins, Modelle. Helfen können diese nur, wenn sie richtig verstanden und interpretiert werden. Geschieht dies, sind sie das beste Hilfsmittel, welches uns zur Verfügung steht.
Es heißt, dass die Zahlen immer aussagekräftiger werden, je langer die Pandemie dauert. Warum ist das so?
Das ist in dieser Allgemeinheit eine schwer zu beantwortende Frage. Generell ist es natürlich so, dass wir gerade bei einem neuen Virus wie SARS-CoV-2 viele der Parameter in den mathematischen Modellen nicht kennen, sondern nur geeignet schätzen können. All diese Schätzungen beruhen aber auf Beobachtungen von Sachverhalten, die starken zufälligen Schwankungen ausgesetzt sind. Über einen längeren Zeitraum hinweg werden diese Schwankungen sich gegenseitig ausgleichen, und man gewinnt ein besseres Bild. Somit kann man das Modell weiter an die Wirklichkeit anpassen.
Natürlich kommen gerade in Bezug auf CoViD-19 noch andere systematische Probleme hinzu. Ich bin hier keine Expertin, aber die Frage „Wer wird wann, warum und wie getestet“ hat natürlich einen sehr großen Einfluss auf unsere Zahlen, und natürlich spielen da andere Aspekte eine Rolle, als in üblichen Theorien zur Erhebung einer korrekten Stichprobe.
Mathematische Berechnungen gewinnen im Zusammenhang mit der Corona-Krise immer mehr an Bedeutung. Was kann man mit mathematischen Mitteln tun, um das Ausmaß der Pandemie exakt zu beschreiben?
Exaktheit ist wahrscheinlich gar nicht das richtige Ziel für solch eine Beschreibung. Es geht eher darum, die Pandemie angemessen zu beschreiben. Die exakte Zahl der CoViD-19 Erkrankten ist Ihnen völlig egal, wenn einer Ihrer Angehörigen betroffen ist und in den mathematischen Modellen sind alle Parameter mit einer gewissen Unsicherheit behaftet.
Die Aufgabe der Mathematik besteht in diesem Zusammenhang auch nicht darin, die Datenlage zu verbessern um noch exakter beschreiben zu können, wie viele Erkrankungen es gibt, sondern vielmehr darin, die besten Informationen aus diesen Daten abzulesen, und die Unsicherheit dieser Antworten auf Basis der Datenlage abzuschätzen beziehungsweise einzuordnen. Die entsprechenden Prognosen und Handlungsempfehlungen können dann Politikern helfen, Entscheidungen zu treffen, und Bürgern helfen, das Handeln der Regierenden zu bewerten.
Die klare Formulierung von Zielen mit mathematischen Kenngrößen wie etwa eine Erhöhung der Verdopplungszeit oder das Senken der Basisreproduktionszahl – übrigens beides Themen, denen wir uns in unseren Videos widmen – ist dann eine Ableitung aus den mathematischen Modellen, die man nicht nur gut begründen kann, sondern an denen man auch den Erfolg von Maßnahmen ablesen kann.
Videoreihe Die Mathematik hinter der Corona-Berichterstattung
Die neue Leipziger Zeitung Nr. 78: Wie Corona auch das Leben der Leipziger verändert hat
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