Die älteste und umfangreichste auf Tonträgern erhaltene deutsche Sammlung lebensgeschichtlicher Interviews steht ab dem 6. April digital für die Forschung zur Verfügung. Sie wird vom Historischen Datenzentrum Sachsen-Anhalt an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg (MLU) auf einem Onlineportal bereitgestellt.
Die verloren geglaubten Daten der international weit beachteten Bonner Gerontologischen Längsschnittstudie, kurz BOLSA, holte die renommierte Historikerin Prof. Dr. Christina von Hodenberg 2015 während eines Forschungsaufenthaltes an der MLU nach Halle. Sie wurden von 1965 bis 1981 erhoben, ihre Digitalisierung wurde von der Volkswagen-Stiftung mit 130.000 Euro gefördert.
Mehr als 3.000 Stunden Tonbandaufnahmen sowie anderthalb Tonnen Akten und umfangreiche statistische Daten: Die Bonner Gerontologische Längsschnittstudie (BOLSA) ist ein Fundus für Forschung in unterschiedlichsten Disziplinen, sei es Alternsforschung, Geschichtswissenschaft, Soziologie oder auch Sprechwissenschaft.
“Vor Kurzem habe ich die Anfrage einer Wissenschaftlerin erhalten, die mit Stimmanalysen herausfinden möchte, ob jemand Alzheimer entwickelt”, erzählt Dr. Katrin Moeller, Leiterin des Historischen Datenzentrums Sachsen-Anhalt, das die Digitalisierung der Daten verantwortet.
Die BOLSA war wegweisend für die wissenschaftliche Beschäftigung mit dem Altern und die Gerontologie in der Bundesrepublik. 222 Männer und Frauen der Geburtsjahrgänge 1890 bis 1905 wurden bis zu ihrem Tod zu acht verschiedenen Zeitpunkten medizinisch und psychologisch getestet.
Außerdem führten Psychologen mit ihnen stundenlange Interviews zu ihrer Lebensgeschichte. Ganz bewusst hatte man als Teilnehmer Menschen aus der Unter- und Mittelschicht ausgesucht. Die Historikerin Prof. Dr. Christina von Hodenberg vom German Historical Institute in London brachte die Dokumente im Rahmen eines durch die Alexander von Humboldt-Stiftung geförderten Forschungsaufenthaltes an die MLU. Sie hatte die fast vergessenen BOLSA-Daten während einer Quellenrecherche entdeckt.
Das Historische Datenzentrum Sachsen-Anhalt, das an der MLU angesiedelt ist, verantwortet seit 2017 die Digitalisierung der Daten. Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Datenzentrums haben alle Dokumente umfangreich verschlagwortet. Die Tonbänder wurden von einer darauf spezialisierten Berliner Firma digitalisiert.
Die Gespräche seien sehr offen und privat gewesen, so Moeller. Nur manche Themen seien größtenteils ausgeklammert worden, etwa der Zweite Weltkrieg. “Es herrschte eine Kultur des Verschweigens.”
Besonders beeindruckt habe sie die Bindung, die zwischen den Wissenschaftlern und den Probanden entstanden sei. Die letzte Befragung habe bei den Probanden zu Hause stattgefunden. “Wie viel Zeit die Psychologen damit verbracht haben, kann ich mir in der heutigen Zeit gar nicht mehr vorstellen.”
Auf einem eigens eingerichteten Onlineportal gibt es die Möglichkeit, die Daten nach Schlagworten zu durchsuchen. Anonymisierte Beispiele geben einen ersten Einblick, den kompletten Zugang erhalten Forschende nach dem Unterzeichnen eines Datenschutzvertrags.
“Dazu haben wir uns entschieden, weil die Probanden über sehr viele Bereiche ihres Lebens berichten”, sagt Moeller. Es seien vor allem ethische Erwägungen, mit solchen Informationen auch lange nach dem Tod der Probanden vertrauenswürdig umzugehen.
Weitere Informationen unter: https://bolsa.uni-halle.de
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