Das gesellschaftliche Leben ist wegen der Coroona-Krise weitgehend lahmgelegt. Die Menschen müssen sich ab sofort an strikte Ausgangsbeschränkungen und Kontaktsperren gewöhnen. Familien, Paare und Alleinlebende sind über längere Zeit an ihre Wohnung gebunden. Welche positiven und negativen Auswirkungen dies auf das Zusammenleben in unserer Gesellschaft haben könnte, dazu äußert sich Prof. Dr. Immo Fritsche von der Universität Leipzig. Der Sozialpsychologe ist Mitglied des in Gründung befindlichen Forschungsinstituts für gesellschaftlichen Zusammenhalt.
Herr Prof. Fritsche, welche Auswirkungen könnte die Corona-Krise auf unser Sozialleben und auf unsere psychische Gesundheit haben?
Wir sind Teil einer hypersozialen Spezies. Unser evolutionärer Erfolg geht im Wesentlichen darauf zurück, dass wir in Gruppen zusammenarbeiten und -leben. Wenn diese enge soziale Einbindung – also unsere „natürliche“ Lebensform – eingeschränkt wird, kann dies nachgewiesenermaßen schwerwiegende Probleme für Wohlbefinden und Gesundheit mit sich bringen.
Ob wir uns sozial eingebunden fühlen, bestimmt auch, wie gut wir mit persönlichen Krisensituationen umgehen und uns von ihnen erholen können. Deshalb kann häusliche Isolation für den Einzelnen problematisch sein und gleichzeitig den Gesundheitszustand der Bevölkerung ironischerweise weiter verschlechtern.
Die Forschung zeigt aber auch, dass es insbesondere unsere eigene Wahrnehmung ist, die entscheidet, ob wir uns sozial zugehörig fühlen oder nicht. Das Gefühl, wichtiger Teil einer Familie, einer Hausgemeinschaft oder auch einer Gesellschaft zu sein, ist nicht primär davon abhängig, wie viele physische Kontakte ich tatsächlich im Alltag habe. Es kommt eher darauf an, ob ich Zusammenhalt und Solidarität in einer solchen Gemeinschaft wahrnehme und ob ich im Notfall darauf zählen kann, dass mir eine Nachbarin Einkäufe mitbringt.
Wer hier bereits vor der Krise gut eingebunden war, sollte auch während der Krise weniger Probleme haben. Schwierig wird es für Personen, die sich selbst als sozial randständig oder gar ausgeschlossen wahrnehmen. Auf diese Personen sollten wir Einzelnen im Alltag ein Auge haben, aber auch öffentliche Fürsorge- und Beratungssysteme dürfen in dieser Situation auf keinen Fall einknicken.
Welche Probleme könnten in Familien auftreten und was hilft dagegen?
Für Familien oder Wohngemeinschaften sollte es auf der einen Seite leichter sein, das Gefühl persönlicher Zugehörigkeit in gemeinsamer Isolation zu bewahren. Aber natürlich gibt es auch Herausforderungen. So müssen wir unser ungewohnt durchgängiges Beisammensein neu organisieren, insbesondere wenn plötzlich ganz neue Aufgaben, wie Home Office oder Home Schooling dazukommen.
Möglicherweise treten in dieser Extremsituation auch Konflikte offen zutage, die verdeckt bereits bestanden. Auch kann das ungewohnte Fehlen von Rückzugsmöglichkeiten für Einzelne sehr belastend sein. Helfen kann es hier, sich über die eigene Belastung durch die Situation offen auszutauschen und gegenüber den Anderen und der eigenen Person Nachsicht zu üben, wenn Geduld oder Leistungsfähigkeit einmal nachlassen.
Vielleicht gelingt es sogar, gemeinsame Projekte zu finden, die alle begeistern, wie Mundschutz-Basteln, Wohnung umgestalten oder eine Nachbarschafts-Chatgruppe mit Material zu füttern.
Was ist aus psychologischer Sicht das Schlimmste an dieser für alle neuen Situation?
Häusliche Isolation kann die seelische Gesundheit Einzelner nicht nur in direkter Weise bedrohen. Es besteht auch die Gefahr, dass bei langanhaltenden Einschränkungen des öffentlichen Lebens wichtige soziale Netzwerkstrukturen für Menschen irreparabel verlorengehen. Dies betrifft insbesondere den beruflichen Bereich, wenn durch die Krise der Arbeitsplatz verlorengeht oder das eigene Kleinunternehmen scheitert.
Das ist nicht nur aus wirtschaftlichen Gründen schlimm für Menschen, sondern vor allem wegen des Verlusts persönlicher Sinnhaftigkeit, sozialer Eingebundenheit und sozialen „Standings“.
Sobald wir in unserem Umfeld oder den Medien zunehmend Covid-19-Krankheits- und Verdachtsfälle wahrnehmen, kann dies die Qualität der Krise nochmals deutlich verändern. Dann steigt die Furcht vor eigener Ansteckung oder einem eigenen schwerwiegenden Verlauf.
Sobald wir andere vor allem als ernstzunehmende Gefahrenquelle für uns selbst wahrnehmen, reduziert dies soziales Vertrauen und erhöht das Risiko sozialer Konflikte und der Stigmatisierung Betroffener. Die Perspektive auf andere als mögliche Hilfsbedürftige und ein Ethos gesellschaftlicher Solidarität könnten dem entgegenwirken.
Unsere eigene experimentelle Forschung zeigt, dass Gefühle persönlicher Bedrohung und Hilflosigkeit dazu führen, dass wir uns stärker mit eigenen Gruppen identifizieren und auch eher als Gruppenmitglieder handeln. Die gute Seite daran ist erhöhte Solidarität gegenüber Personen die wir zur eigenen Gruppe zählen, also Mitgliedern der eigenen Familie, Nachbarschaft oder ethnischen Gruppe.
Die dunkle Seite ist, dass wir weniger tolerant reagieren, wenn Gruppenmitglieder in ihrem Denken und Verhalten von der Gruppe abweichen und stärker dazu neigen, Angehörige anderer Gruppen abzuwerten und zu diskriminieren. Wir alle sollten im Alltag darauf achten, dass diese unbewussten und automatischen feindseligen Reaktionen auf Bedrohung uns nicht beherrschen.
Was könnte ein positiver Effekt der Krise sein?
Vielleicht wird unser Leben – wenn wir uns als solidarische und gemeinsam tatkräftige Gesellschaft bewähren – stärker durch das Gefühl geprägt sein, persönlich Verantwortung für das Ganze zu tragen. Dieses „kollektive Wirksamkeitserleben“ könnte sich dann möglicherweise auf unsere Motivation übertragen, auch die noch viel größeren kollektiven Krisen gemeinsam anzugehen. Klimawandel und das Aussterben der Arten machen ja schließlich keine Corona-Pause.
Warum “hamstern” die Menschen Dinge wie Toilettenpapier, von denen es eigentlich genügend geben könnte. Welcher “Urinstinkt” des Menschen zeigt sich jetzt?
Neben den körperlichen gibt es auch psychische Grundbedürfnisse. Eines dieser Bedürfnisse ist jenes nach Kontrolle und Autonomie. Dies wird insbesondere in Krisensituationen wichtig, denn der Eindruck, die eigenen Lebensumstände selbst beeinflussen zu können, verhindert Hilflosigkeitsgefühle und erhält unsere Motivation, selbst zu handeln.
Wenn Menschen glauben, ausreichend mit grundlegenden Gütern des täglichen Bedarfs ausgerüstet zu sein, hilft ihnen dies, ihr persönliches Kontrollgefühl aufrechtzuerhalten. Gleichzeitig stärkt es den Eindruck, in der Krise nicht auf andere angewiesen zu sein. Schließlich müsste man im persönlichen Quarantänefall andere Personen bitten, die eigenen Einkäufe zu erledigen.
Solche Abhängigkeiten wollen Menschen in der Regel vermeiden, insbesondere gegenüber Personen, die nicht Teil eigener enger Gemeinschaften, zum Beispiel der eigenen Familie, sind.
Hier steckt aber auch eine mögliche Lösung des Problems: Abhängigkeiten sind für uns dann eher in Ordnung, wenn sie innerhalb eigener Gemeinschaften bestehen. Dann nennen wir diese Abhängigkeiten gegenseitige „Solidarität“. Es kann also helfen, wenn wir die anderen Menschen in unserem Umfeld als Teil unserer eigenen Gemeinschaft zu sehen lernen.
Dann können wir die Abneigung gegenüber gegenseitiger Abhängigkeit ablegen. Dann investieren wir unsere Zeit nicht in übertriebene und unsolidarische Eigenvorsorge, sondern in das Handeln für die Gemeinschaft. Und schließlich gehört das „Wir-Denken“ zu unserer artgeschichtlichen Grundausstattung und ist unser evolutionäres Erfolgsrezept.
Corona-Hilfe-Team der Stiftung „Ecken wecken“ hat schon über 400 Helfer/-innen in Leipzig gefunden
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