Ungewöhnliche Umstände erfordern ungewöhnliche Maßnahmen: Nach Absage der Leipziger Buchmesse aufgrund der aktuell hohen Auflagen für öffentliche Großveranstaltungen gab die Jury des Preises der Leipziger Buchmesse die Namen der drei diesjährigen Preisträger in der Live-Sendung „Lesart-Das Literaturmagazin“ des Preis-Medienpartners Deutschlandfunk Kultur am 12. März bekannt.
„Die Leipziger Buchmesse und ihr Preis leben, auch wenn wir schweren Herzens, aber aus Sorge um die Gesundheit und Sicherheit unserer Gäste die Buchmesse 2020 absagen mussten“, erklärt Oliver Zille, Direktor der Leipziger Buchmesse. „Ich danke Deutschlandfunk Kultur ganz herzlich für die pragmatische, kollegiale Hilfe, in dieser Situation die Preisverkündung ins Radio zu verlegen, um zumindest den Preisträgern einen Resonanzraum zu geben.“
Lutz Seiler erhält für sein Werk „Stern 111“ (Suhrkamp Verlag) den Preis der Leipziger Buchmesse in der Kategorie Belletristik. Bettina Hitzer wird mit dem Preis der Leipziger Buchmesse in der Kategorie Sachbuch/Essayistik für ihr Buch „Krebs fühlen. Eine Emotionsgeschichte des 20. Jahrhunderts“ (Klett-Cotta Verlag) ausgezeichnet. Preisträgerin in der Kategorie Übersetzung ist Pieke Biermann für die Übersetzung von Fran Ross Buch „Oreo“ (dtv Verlag).
Kategorie Belletristik:
Lutz Seiler | Stern 111 | Suhrkamp Verlag
Zur Begründung:
Der „Stern 111“, er leuchtet spektral. Legendäres Radiofabrikat der DDR, reine Liebe für eine junge Frau, die Sternferne der Dichtkunst genauso wie der Star, der die Eltern des Romanhelden in den Westen lockt. Dieser Roman leuchtet auf jeder Seite, und das mit menschenfreundlichem Humor. Die Milchstraße wird ziegengemacht, in jeder schnell errichteten Mauer krabbeln die Asseln der Schwellenzeiten, unter dem Schimmel der uralten Konserven lauert rätselhafte Süße.
In Lutz Seiler kunstvollem Roman wird groß und genau die Neuordnung der Dinge in einem plötzlich regellosen Raum beschrieben, und das in der Verquickung von Geschichtsschreibung und Privatmärchen. Auf die Zeitläufe legt der Autor eine sinnliche Zeitschreibung: die eines werdenden Dichters und jungen Mannes, der sich elternlos finden muss, sich auf den Weg macht in ein poetisches Dasein.
Nicht zuletzt erzählt „Stern 111“ – ohne die Geste des „Wenderomans“ bemühen zu müssen – vom sich binnen kurzem veränderndem Herzschlag der Mitte Berlins, erst kommen die Künstler und Maurer, dann die Prostituierten, die Touristen. Während die Älteren die Welt entdecken.
Der Autor:
Lutz Seiler, 1963 in Gera geboren, arbeitete nach einer Lehre als Baufacharbeiter als Zimmermann und Maurer und studierte anschließend Germanistik. Seit 1997 leitet er das Literaturprogramm im Peter-Huchel-Haus. Für sein literarisches Werk erhielt Seiler mehrere Preise, darunter den Ingeborg-Bachmann-Preis, den Bremer Literaturpreis, den Uwe-Johnson-Preis und 2014 den Deutschen Buchpreis. Er lebt in Berlin und Stockholm.
Kategorie Sachbuch und Essayistik:
Bettina Hitzer | Krebs fühlen. Eine Emotionsgeschichte des 20. Jahrhunderts | Klett-Cotta Verlag
Zur Begründung:
Mit keiner Krankheit sind wir im privaten wie öffentlichen Umfeld so stark konfrontiert wie mit Krebs. Bettina Hitzer zeichnet die Geschichte dieser Erkrankung so umfassend nach wie noch nie: Sie schreibt eine Gesellschaftsgeschichte, Emotionsgeschichte und Mediengeschichte. Ihr Buch beleuchtet, wie unterschiedlich im 20. Jahrhundert in Deutschland Krebs erforscht, besprochen und erlebt worden ist. Dabei zeigt sie auf, welchem gesellschaftlichen Wandel der Umgang mit der Krankheit unterlag.
Von der Mündigwerdung des Patienten über die öffentliche Akzeptanz bis zur Erfindung der Nachsorge entsteht so ein Panorama, das über einfache Fallgeschichten und Ratgeber von Krebs weit hinausreicht. Mit ihrem emotionsgeschichtlichen Zugriff vertritt Bettina Hitzer einen fruchtbaren neuen Ansatz der Geschichtswissenschaft. Und am Ende steht dabei die Entdeckung: Noch nie haben wir unsere Gefühle so stark rationalisiert wie heute in der Zeit ständiger Selbstoptimierung und permanenter Gefühlsarbeit.
Die Autorin:
Bettina Hitzer studierte Geschichte, habilitierte sich und lehrt an der FU Berlin. Seit 2014 leitet sie eine Forschungsgruppe am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung, die sich mit Krankheit als Emotionsgeschichte beschäftigt. Ihre Arbeiten zur Wissens- und Wissenschaftsgeschichte sowie zur Migrations- und Religionsgeschichte wurden 2016 mit dem Walter-de-Gruyter-Preis ausgezeichnet. Sie lebt in Berlin.
Kategorie Übersetzung:
Pieke Biermann | Oreo von Fran Ross übersetzt aus dem amerikanischen Englisch | dtv Verlag
Zur Begründung:
Außen schwarz und innen weiß, so sieht nicht nur ein Oreo-Keks aus, zwischen zwei Hauttypen (und Milieuschichten) verpappt ist auch Christine, die Tochter einer schwarzen Mutter und eines weißen Juden namens Schwartz. Christines Geschichte ist dabei vor allem eines: kunterbunt. Zwischen Mythologie, Rassismuskritik, Slapstick und Psychoanalyse-Satire changierend, brennt Fran Ross in „Oreo“ zudem ein sprachliches Feuerwerk ab, das seinesgleichen sucht.
Jiddische Ausdrücke, Gossenslang und akademisches Highbrow-Palaver stellen die Übersetzung vor enorme Herausforderungen. Pieke Biermann hat sie bravourös gelöst und das halsbrecherische Erzähl-Tempo dieser durch New York rasenden rotzfrechen und oberschlauen Superfrau mit großem Erfindungsreichtum in ein Deutsch gebracht hat, das eine solch schrill-schöne Vielgestalt auf so engem Raum selten gesehen hat.
Die Übersetzerin:
Pieke Biermann, geboren 1950, studierte Deutsche Literatur und Sprache bei Hans Mayer sowie Anglistik und Politikwissenschaft in Hannover und Padua. Seit 1976 ist sie freie Schriftstellerin und Übersetzerin, u.a. von Stefano Benni, Andrea Bajani, Dacia Maraini, Agatha Christie und Dorothy Parker. Ihre Bücher wurden mehrfach ausgezeichnet, unter anderem drei Mal mit dem Deutschen Krimipreis. Sie lebt in Berlin.
Jury des Preises der Leipziger Buchmesse
Unter der Leitung von Jens Bisky wählte die siebenköpfige Jury Katharina Herrmann, Tobias Lehmkuhl, Wiebke Porombka, Marc Reichwein, Katrin Schumacher und Katharina Teutsch 15 Nominierte und drei Preisträger aus insgesamt 402 eingereichten Titeln für den Preis der Leipziger Buchmesse 2020 aus.
Über den Preis der Leipziger Buchmesse
Der mit insgesamt 60.000 Euro dotierte Preis der Leipziger Buchmesse ehrt seit 2005 herausragende deutschsprachige Neuerscheinungen und Übersetzungen in den Kategorien Belletristik, Sachbuch/Essayistik und Übersetzung. Der Freistaat Sachsen und die Stadt Leipzig unterstützen den Preis der Leipziger Buchmesse. Partner des Preises ist das Literarische Colloquium Berlin. Medienpartner ist das Kundenmagazin buchjournal und Deutschlandfunk Kultur.
Lauter gerettete Lesungen aus dem Leseprogramm der Buchmesse 2020
Lauter gerettete Lesungen aus dem Leseprogramm der Buchmesse 2020
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