Der Warschauer Aufstand, der Kampf der polnischen Heimatarmee gegen die deutschen Besatzungstruppen in Warschau vom 1. August bis zum 1. Oktober 1944, gilt als größte einzelne bewaffnete Erhebung gegen die deutsche Wehrmacht im besetzten Europa während des Zweiten Weltkrieges. Dieses Ereignis jährt sich zum 75. Mal. Dr. Anna Artwińska, Juniorprofessorin für westslawische Literaturen und Kulturen an der Universität Leipzig, beschäftigt sich in ihrer Forschung mit der polnischen Erinnerungskultur und der Frage, wie extreme Erfahrungen wie Krieg oder die Shoah künstlerisch vergegenwärtigt werden können.
Frau Dr. Artwinska, inwieweit wurde die Entwicklung Polens durch den Warschauer Aufstand 1944 geprägt?
Der Warschauer Aufstand ist in Polen ein sehr wichtiges Thema, sowohl in der Geschichtsschreibung und in der Erinnerungskultur, als auch in den gesellschaftlichen Debatten. Er ist ein sehr umstrittenes Ereignis, das die Bevölkerung extrem polarisiert. Die Tatsache, dass im August 1944 die Bewohnerinnen und Bewohner von Warschau sich für einen Kampf mit dem Okkupanten entschieden haben, zeugt eindeutig vom Heroismus.
Gleichzeitig drängt sich die Frage auf, ob der Kampfentschluss der Aufständischen nun richtig war. Denn nach dem Aufstand lag Warschau in Schutt und Asche, Tausende von Menschen sind ums Leben gekommen. Auf jeden Fall gehört der Aufstand 1944 zu den polnischen nationalen Mythen, die die kollektive Vorstellungskraft bis heute prägen.
Wie man weiß, erwartete die polnische Untergrundbewegung, dass die Rote Armee nach Warschau eindringen würde. Dazu ist es nicht gekommen, die Heimatarmee hat dann alleine gekämpft. Am 2. Oktober war der Aufstand nach 63 Tagen endgültig niedergeschlagen. Der Inhalt dieses Mythos ist somit nicht nur positiv: Es geht auch um das Gefühl des Verrats.
Polen wurde durch den Warschauer Aufstand – wie auch durch den Krieg allgemein – extrem geprägt. Das Leben danach war ein Leben im Schatten der Katastrophe, das eine grundsätzliche Umorientierung im individuellen wie im kollektiven Sinne verlangte. Die Folgen des Aufstands sind, würde ich behaupten, bis heute sichtbar. Die polnische Gesellschaft erfindet sich immer aufs Neue. Die Erinnerung an die Aufständischen und an die brennende Stadt wird wachgehalten.
Was ich in diesem Zusammenhang wichtig finde, ist die Tatsache, dass in der polnischen Kultur vor allem an den Warschauer Aufstand von 1944 erinnert wird. Dabei gab es in Warschau bereits ein Jahr früher einen Aufstand – den Aufstand im Warschauer Ghetto. Am 19. April 1943 erhoben sich die völlig unzureichend bewaffneten jüdischen Aufständischen als erste gegen die Besatzungsmacht.
Die polnische Bevölkerung hat dabei – und das muss gesagt werden – zugeschaut, wie das Ghetto brannte. Der Gutachter meiner Doktorarbeit, Prof. Michał Głowiński, war von 1941 bis 1943 im Warschauer Ghetto eingesperrt. Zum Glück ist es ihm gelungen, vor dem Aufstand aus dem Ghetto zu fliehen. Ich habe seine Erinnerungen aus dieser Zeit letztes Jahr auf Deutsch herausgegeben.
Was hat Sie bewogen, dieses Werk herauszugeben?
“Schwarze Jahreszeiten”, so lautet der Titel dieses Buches, ist in ästhetischer Hinsicht ein sehr anspruchsvoller Text. Der Autor agiert als Literaturwissenschaftler und als Shoah-Überlebender zugleich, was die Lektüre spannend macht. Das Buch gehört zu den besten Shoah-Zeugnissen, die auf Polnisch verfasst worden sind. Außerdem wusste ich, dass sich Głowiński wünschte, seine Erinnerungen an die Zeit im Ghetto und das Verstecken auf der „arischen Seite“ dem deutschen Publikum zugänglich zu machen. Deswegen habe ich mich um die Herausgabe gekümmert.
Der Warschauer Aufstand und der Aufstand im Warschauer Ghetto sind also Ereignisse, die man zusammen denken soll?
Beide Aufstände gehören zur polnischen Geschichte und sind unzertrennlich mit Warschau verbunden. In der Stadt gibt es zahlreiche Spuren, die auf diese Katastrophen hinweisen. In diesem Sinne ja, man soll die beiden Aufstände zusammendenken. Gleichzeitig handelt es sich hier um zwei unterschiedliche Ereignisse.
In Bezug auf den Aufstand im Ghetto geht es immer um die Frage nach der polnischen Mitschuld an der Shoah. Der Aufstand von 1944 konfrontiert wiederrum mit den Fragen nach den Grenzen des Patriotismus und der Opferbereitschaft. Denn eine Sache ist der Heroismus der Aufständischen, die sein Leben für Polen geopfert haben, und eine andere der Preis, den für den Aufstand zu zahlen war.
Wie erinnert man sich in diesem Jahr in Warschau an den Aufstand vom 1944?
Da es sich um ein Jubiläum handelt, wird intensiv an den Aufstand erinnert. Die Spannbreite reicht von politischen Aktionen, über Re-enactment in Schulen bis hin zu den Gesprächen mit den letzten Zeugen. Zu erwarten ist ein thematisches Programm im Fernsehen und im Kino. In diesem Zusammenhang möchte ich gern auf den Film „Warschau 44“ von Jan Komasa aus dem Jahr 2014 hinweisen, er ist auch in Deutschland zugänglich.
Persönlich finde ich auch sehr spannend, wie in der polnischen Forschungslandschaft über den Aufstand diskutiert wird. 2013 hat Patrycja Bukalska das Buch „August-Mädchen“ geschrieben, in dem sie sich mit den Frauen, die im Aufstand gekämpft haben, beschäftigt. Der Warschauer Aufstand hatte nämlich auch ein weibliches Gesicht. Diesbezüglich gibt es sehr viel zu entdecken.
Frei nach Schiller: Die Gedanken sind nicht frei, wenn Einer nicht den Mut zur Freiheit hat
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