Sie sind nur zu fünft und stehen jetzt im Büro der Kandidaten Heiko Oßwald und Manfred Rauer, die für die SPD in den Stadtrat einziehen möchten. „Alle anderen Kolleg*innen sind im Unterricht“, entschuldigen sie sich, „Wir gehören zu den wenigen, die den heutigen Unterricht verschieben konnten.“
Mitgebracht haben sie ihr Geschenk, einen alten, hölzernen Stuhl, den sie an der Lehne festhalten müssen, damit er nicht zur Seite kippt. „Es ist ein Dozent*innen-Stuhl“, erklären sie. „Drei Beine sind intakt und tun ihren Dienst. Wir können sagen, es sind die Beine Professionalität, Engagement und Qualifikation. An ihnen ist nichts auszusetzen. Und deswegen ist das Niveau unseres Unterrichts an der Volkshochschule auch so hoch. Aber das vierte Bein ist unsere Bezahlung und unsere soziale Absicherung. Leider ist es viel zu kurz. Daran ändern auch die jüngst vom Stadtrat beschlossenen Honorarerhöhungen so gut wie nichts, sie verlängern das kurze Bein nur um ein paar Millimeter. Doch die Beine müssen gleich lang sein, damit der Stuhl nicht wackelt.“
Sie möchten gern, dass die Kandidaten das Lebensgefühl verstehen, das ein Mensch hat, der viele Jahrzehnte und ohne Aussicht auf Änderung auf so einem Stuhl sitzt. „Es ist klar“, sagt Karl Kirsch, Deutschdozent an der VHS, „Wer sich ständig so ausbalancieren muss, kann nie zur Ruhe kommen. An ein Leben voller Einschränkungen und Unsicherheit schließt sich unweigerlich die Altersarmut an, das Wackeln und Zittern nimmt einfach kein Ende.“
„Die Dimensionen des Problems sind größer und gehen weit über den Horizont der Volkshochschulen hinaus“ sagt dazu Olaf Broszeit, Gewerkschaftssekretär für den Fachbereich Bildung, Wissenschaft und Forschung in ver.di. „Unsichere Lebensverhältnisse durch kleine Einkommen und prekären Beschäftigungsstatus sehen wir in erschreckend vielen Bereichen. Aber ein Arbeit- und Auftraggeber wie die Stadt Leipzig sollte tunlichst zusehen, dass so etwas in seiner Verantwortung nicht vorkommt.“
Und er fügt hinzu: “Eine beständige Sorge – das Sitzen auf dem wackeligen Stuhl – die alle Lebensbereiche und -äußerungen überschattet, verbunden mit existentiellen Zukunftsängsten, sollte keinen Platz in unserer Gesellschaft haben. Die Sorge, nicht mehr mitzukommen, nicht mehr auf dem Laufenden zu sein, die Aufgaben nicht mehr bewältigen zu können, die Angst abgehängt zu werden, kennen nicht nur Arbeitslose, Hartz-IV-Empfänger oder Ausbildungsabbrecher, sondern auch Volkshochschuldozent*innen.“
Als sich die kleine Gruppe aus der Volkshochschule eine Viertelstunde später wieder auf den Weg macht, stellt sich die Frage, ob mit oder ohne Stuhl. „Unser Geschenk“, sagt Karl, Kirsch diplomatisch, „kann man sicher auf verschiedene Weise annehmen. Wenn er oder sie im Stadtrat später nicht vergisst, wie ein angemessener Stuhl für uns Dozentinnen und Dozenten aussehen müsste und dass die Sache keinen Aufschub duldet, dann ist unser Geschenk angekommen.“
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