Etwa fünf bis zehn Prozent der Bevölkerung entwickeln im Laufe ihres Lebens Suizidgedanken. Eine genaue Vorhersage, wer diesen Gedanken auch Taten folgen lässt, ist der aktuellen Forschung zufolge nicht sicher möglich.
Dennoch brauchen Ärzte und Therapeuten Anhaltspunkte, um das Risiko suizidalen Verhaltens abschätzen zu können. Wissenschaftler der Leipziger Universitätsmedizin untersuchen eine Theorie zur Vorhersage von suizidalen Gedanken und Handlungen. Die Ergebnisse stellen sie auf dem gemeinsamen Kongress der Deutschen Gesellschaft für Medizinische Psychologie und der Deutschen Gesellschaft für Medizinische Soziologie vor. Er findet vom 26. bis 28. September auf dem Leipziger Universitätscampus statt.
Wann sollte ein suizidgefährdeter Patient stationär aufgenommen und versorgt werden? Darf ein Patient die Klinik über das Wochenende verlassen oder ist die Gefahr eines Suizids zu hoch? Diese Fragen müssen Ärzte und Therapeuten regelmäßig beantworten und anhand von bestimmten Faktoren das Risiko einschätzen. Es gibt zwar etablierte Risikofaktoren für suizidale Handlungen, wie männliches Geschlecht, Substanzmissbrauch oder ein bereits erfolgter Suizidversuch, deren praktische Bedeutung für die Vorhersage von suizidalen Handlungen ist im Einzelfall jedoch kritisch zu sehen.
„Die Studienlage aus den vergangenen Jahrzehnten ist eindeutig: Wir können einen Suizid bislang nicht sicher vorhersagen“, sagt Prof. Dr. Heide Glaesmer, Psychologische Psychotherapeutin und stellvertretende Abteilungsleiterin der Abteilung für Medizinische Psychologie und Medizinische Soziologie. „Wir wollen die Vorhersage von suizidalen Handlungen verbessern und untersuchen deshalb Theorien suizidalen Verhaltens in empirischen Studien.“
Theorie suizidalen Verhaltens empirisch geprüft
In einer aktuellen Untersuchung prüften Wissenschaftlerinnen die Evidenz zur Interpersonalen Theorie suizidalen Verhaltens von Thomas Joiner. Sie besagt, dass drei Komponenten einen möglichen Suizid bedingen: Betroffene empfinden sich als Last für andere und fühlen sich keiner wertgeschätzten Gruppe der Gesellschaft zugehörig. Der dritte Aspekt beschreibt die „capability for suicide“, also die Fähigkeit durch Suizid zu sterben. Denn nicht jeder Mensch ist in der Lage, sich Schmerzen und Verletzungen zuzufügen, die zum Tod führen können. Diese Eigenschaft können Betroffene etwa durch traumatische Erfahrungen wie Missbrauch oder Krieg erwerben, aber auch durch bereits erfolgte Suizidversuche. Die Theorie ging bislang davon aus, dass sie erworben wird und dann zeitlich eher stabil bleibt.
Patienten per Smartphone zu Befinden befragt
Die Studie der Leipziger Wissenschaftler zeigt etwas Anderes: Die Fähigkeit, sich selbst diese Verletzungen zuzufügen, kann von Tag zu Tag variieren. Stationäre Patienten, die an Depressionen litten und Suizidgedanken hatten, nahmen an der Studie teil. Für die Untersuchung wurden sie an sechs Abenden hintereinander per Smartphone um eine Einschätzung gebeten, ob sie heute großen körperlichen Schmerz hätten aushalten können und wie furchtlos sie heute gegenüber dem Tod waren. „Ein gewisser Prozentsatz der Probanden hat immer gleich geantwortet. Die Mehrheit hingegen gab jeden Tag eine etwas andere Antwort.
Die Fähigkeit, durch Suizid zu sterben, hat somit nicht ausschließlich mit den vorangegangen Lebensereignissen und -erfahrungen zu tun, sondern auch mit dem aktuellen Befinden“, sagt Dr. Lena Spangenberg, wissenschaftliche Mitarbeiterin und Leiterin der Studie. Aktuell wird eine weitere Studie gemeinsam mit Kollegen aus Aachen und Bochum durchgeführt. In dieser wurden rund 300 Patienten, die nach einem Suizidversuch oder wegen akuter Suizidalität in psychiatrische Kliniken aufgenommen wurden, befragt. Sie werden nun nach sechs, neun und zwölf Monaten erneut befragt. Ziel dieser Studie ist es, die Bedeutung der Interpersonalen Theorie suizidalen Verhaltens für die Vorhersage von Suizidalität in dieser Hochrisikogruppe genauer unter die Lupe zu nehmen.
Über 250 Teilnehmer zur Tagung erwartet
Die Ergebnisse der Untersuchung werden nun erstmals auf der gemeinsamen Fachtagung der Deutschen Gesellschaft für Medizinische Psychologie und der Deutschen Gesellschaft für Medizinische Soziologie vom 26. bis 28. September vorgestellt. Unter dem Motto „Von globalen Herausforderungen der Gesundheitsversorgung zu gemeindebasierten und individuellen psychosozialen Interventionsstrategien“ werden in Leipzig etwa 300 Wissenschaftler aus Deutschland erwartet. „Wir beschäftigen uns auf der Konferenz mit den aktuellen Herausforderungen einer globalisierten Welt.
Dazu zählen die älter werdende Bevölkerung mit einer hohen Morbidität und spezifischen Versorgungsbedürfnissen, die zunehmende Bedeutung psychischer Störungen, wie Depression und Angsterkrankungen, sowie die Zunahme von Adipositas und deren Folgeerkrankungen in den Industriestaaten“, sagt Prof. Dr. Anja Mehnert-Theuerkauf, die die Abteilung und die Tagung leitet. Der Kongress bietet die Möglichkeit des Austauschs zwischen Wissenschaftlern und Klinikern sowie allen in der Medizinpsychologie und Medizinsoziologie tätigen Berufsgruppen. Ein Schwerpunkt liegt auf der wissenschaftlichen Nachwuchsförderung und der Fortbildung.
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