Die Höhepunkte einer „a cappella“-Woche in ein einziges Konzert zu bekommen, ist eigentlich unmöglich. Denn in einem Jahrgang wie 2018 reiht sich in Leipzig ein großartiges Konzert an das andere – was soll man da für die Zusammenfassung weglassen? Dennoch versprachen nicht nur der Terminkalender, sondern vor allem die Einzelkonzerte derjenigen Ensembles, die in der zweiten Festivalhälfte auftraten, dass eine Kombination dieser Gruppen ein außerordentlich gutes Abschlusskonzert ergeben würde – wobei sich damit dieser ausgiebige Musikabend erst einmal nicht von denen vorheriger Jahrgänge unterschied.
Und so geschah es. Natürlich mit den „a cappella“-Hausherren amarcord zu Beginn und natürlich mit einem Jahr für Jahr anderen Einstieg in die abschließende Rundschau des Festivals. Diesmal ganz ungewohnt: mit schroffen modernen Klängen nämlich. Die erste Hälfte des Eröffnungsstücks (das Agnus Dei eines Requiems) ist von zahlreichen Dissonanzen bestimmt, die sich erst in der zweiten Hälfte, mit der inhaltlichen (Hin-)Wendung „Pie Jesu“ buchstäblich in Wohlgefallen, also ganz harmonische Akkorde, auflösen. Das Stück wurde für amarcord von Ko Matsushita geschrieben, einem japanischen Komponisten und Chorleiter, der für amarcord bei ihrer letzten Japan-Tournee schnell zum Freund wurde und in diesem Jahr auch Jurymitglied des Internationalen A CAPPELLA Wettbewerbs im Rahmen dieses Leipziger Festivals war.
Die sich daran anschließenden zwei Lieder wiederum waren eine Widmung seitens amarcord: Anlässlich seines 275. Jubiläums ehren sie das Gewandhaus mit Stücken zweier ehemaliger Gewandhauskapellmeister. Mendelssohns liebevolles „Abendständchen“ steht dabei Carl Reineckes „Wenn der Frühling kommt“ gegenüber, in welchem der Frühling nicht nur zart, sondern auch stürmisch aufbrausend daherkommt (was amarcord erfreulich kraftvoll umzusetzen weiß).
Richard Strauss‘ „Fröhlich im Mai“ singen sie anlässlich des bevorstehenden Muttertags (wobei sich zumindest der Titel auch bestens auf den alljährlichen Festivalreigen beziehen ließe) und beenden ihren Programmteil mit einer weiteren Premiere: einem Arrangement, das erst eine Woche vor dem Konzert in einem dreistündigen Workshop des Festivals „a cappella“ mit Juan M.V. Garcia entstand. Der gewitzte Sänger und Arrangeur hat sich dabei entschieden, den amarcords das 90er-Jahre-Opus „I’m Too Sexy“ in die Kehlen zu legen, wenngleich in einer ganz neuerfundenen, fülligen Jazz-Version. Das so vorliegende musikalische Material ist bereits top, aber wie die Festivalgründer das Stück dann auch klanglich und in ihrer Präsentation betont unsexy und lakonisch umsetzen, ist einfach nur klasse. Gerne wieder!
Klasse sind auch New York Polyphony, denn die vier New Yorker Herren kombinieren Werke der Renaissance und der Gegenwart miteinander und das mit einem fantastischen Ensemblesound. Für das Abschlusskonzert stellen sie zwei spanischen Komponisten der Renaissance zwei zeitgenössische Kollegen von den Britischen Inseln gegenüber: Das bewegte „Regina caeli“ von Francisco Guerrero und das wendungsreiche „Credo“ der Missa L’homme armé von Francisco de Peñalosa changieren mit dem Stück „O pia virgo“ des Iren Michael McGly, das sich durch schöne Klänge und Klangwechsel auszeichnet, sowie Ivan Moodys „Canticum Cantocorum“ – und passen klanglich sehr gut neben- und zueinander. Der absolut saubere und fein abgestimmte Klang des Ensembles nimmt die Zuhörer sofort mit und macht es einem leicht, ihnen zuzuhören und – zuschauen.
Nach alter Tradition stellen sich im Abschlusskonzert von „a cappella“ auch die frisch gekürten Preisträger des A CAPPELLA Wettbewerbs im Großen Saal des Gewandhauses zu Leipzig vor. In diesem Jahr hat die Jury keinen Award vergeben, dafür aber u.a. zwei zweite Plätze – ein Vorteil für das Publikum des Abschlusskonzerts, kann es doch so gleich zwei vielversprechende Nachwuchsensembles erleben. Die ungarische Gruppe WindSingers stellt sich mit einer Eigenkomposition, einem Swing-Klassiker von Benny Goodman und einer angejazzten Bearbeitung eines ungarischen Volksliedes vor.
Die Titel sind sehr unterschiedlich, aber beide gleichermaßen überzeugend, zeigen sie doch hervorragend den Zusammenklang, die Kreativität und das umwerfende Talent der Gruppe für die vokale Umsetzung von Swing- und Jazz- Nummern. Die anderen Zweitplatzierten (und zudem Publikumspreisträger) des Wettbewerbs, Aba Taano aus Uganda, machen afrikanischen Gospel – und das so überzeugend und authentisch, dass ihnen auch bei diesem Auftritt verzückter Jubel sicher ist. Das Ensemble klingt herrlich zusammen, reißt mit und verbreitet direkt große Vorfreude auf das Preisträgerkonzert 2019.
Nach der Pause erlebt der rundum ausgefüllte Gewandhaus- Saal eine weitere traditionelle musikalische Kultur Afrikas, die aber höchst selten zu hören, ganz eigen und – da in ihrer jahrhundertelangen Existenz bedroht – erklärtes Weltkulturerbe ist. Die Gruppe Ndima entstammt dem Volk der Aka, die im Regenwald des Kongo leben und in ihrer Musik mit einer Jodel- Technik namens Diyengue arbeiten. Diese wird zunächst solistisch vorgestellt, bevor die Gruppe mehrere drei- und vierstimmige Lieder singt, die nicht nur die möglichen melodischen Varianten dieses Stils zeigen, sondern vor allem auch die Polyrhythmik, die diese Musik so besonders macht: Jede Stimme hat einen eigenen Rhythmus, was in Kombination zu einer beeindruckenden Klangschichtung führt. Für europäische Ohren eher ungewöhnlich und komplex ist das natürlich, aber das Publikum ist wie schon bei Ndimas Einzelkonzert begeistert, dieser außergewöhnlichen Tradition lauschen zu dürfen.
Zum Schluss des Abends lassen die Humanophones aus Frankreich dann vor allem Körper und Impuls sprechen: Starten sie zunächst noch mit einem eher homophonen, klangstarken Lied, bricht sich langsam die Body Percussion Bahn, die wesentliches Element ihrer Art von A-cappella-Musik ist und diese körperlich unheimlich lebendig werden lässt. In Verbindung mit spielerischer Vokalakrobatik und der teils improvisierten, teils szenisch inszenierten Performance ergibt das einen sehr groovigen und fantasievollen Cocktail aus Klang, Komik und Kommunikation. Die Gruppe nutzt alle Möglichkeiten, mit dem Körper Klänge zu erzeugen, spielt sich musikalische Bälle zu und erzählt mit ihrer Musik Geschichten, was das Publikum auch im Abschlusskonzert begeistert.
Die vielleicht schönste Geschichte des Festivals aber kommt zum Schluss: Zwischen Ndima und den Humanophones hat sich in den letzten Tagen eine künstlerische Freundschaft entwickelt, die bereits zu einem spontanen Jam nach dem Konzert der Humanophones am Vortag führte. Am Schlusspunkt des neuntägigen Festivals „a cappella“ machen beide Ensembles nun eine gemeinsame Impro-Session.
Und die beiden unterschiedlichen Klangwelten der Gruppen passen und ergänzen sich tatsächlich großartig. Von Rémi Leclerc, dem kreativen Kopf hinter den Humanophones, dirigiert, setzen die Franzosen kleine Melodien und Patterns gegen die polyrhythmischen Gesänge des Aka-Ensembles, solieren und haben am Ende sogar ein „Tanzduell“ mit ihren Partnern aus dem Kongo. In dieser Form gab es so etwas bei „a cappella“ Leipzig wohl noch nie. Ein echtes Happening und ein besonderer Moment, der künstlerisch ganz groß und damit jede Ausuferung im gesamt dreieinhalbstündigen Konzert vor knapp 1900 höchst aufmerksamen und begeisterten Gästen wert war.
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