Das neue Kabinett ist komplett. Es ist jünger und weiblicher geworden - doch Kritiker monieren, dass es nur eine Ostdeutsche auf einen Ministerposten geschafft hat. Aber ist das rund 30 Jahre nach der Wiedervereinigung überhaupt noch ein Thema? Und warum landen Ostdeutsche selten in Führungspositionen?
Dr. Lars Vogel, Politikwissenschaftler der Universität Leipzig, weiß Antworten auf diese Fragen. Seine Forschungsschwerpunkte liegen auf politischer Repräsentation, Eliten, Populismus und Rechtsextremismus. Die neue Bundesregierung hat er sich genau angeseheJünger, weiblicher, neue Gesichter – haben CDU/CSU und SPD bei der Benennung ihrer Minister nicht alles richtig gemacht? Sogar eine ostdeutsche Ministerin ist dabei – ist das in Ihren Augen wichtig?
In der Personaldiskussion für das neue Kabinett lag ein großes Gewicht auf äußerlichen und somit leicht sichtbaren Merkmalen, wie Geschlecht und Alter. Das zeigt, welches Gewicht die Parteien solchen Eigenschaften in der Politik zuschreiben. Damit wird Symbolpolitik gemacht: Wir stehen für Verjüngung und Gleichberechtigung, ohne dass damit bereits substanzielle Politikänderungen verbunden sein müssen.
Doch wird Politik eben auch, und oft sogar vorrangig, über solche Symbole wahrgenommen. Gerade vor diesem Hintergrund ist es wichtig und richtig, die Ostdeutschen als eine Bevölkerungsgruppe, die in vielerlei Hinsicht spezifische Interessen besitzt und eine kollektive Identität zu verteidigen sucht, auch symbolisch am Kabinettstisch zu platzieren. Der in Ost- weiter als in Westdeutschland verbreiteten Haltung, nicht ganz dazu zu gehören, wird damit entgegengewirkt.
Ostdeutsche sind in den Führungsetagen von Politik und Wirtschaft generell unterrepräsentiert – welche Auswirkungen und Konsequenzen hat das für Ostdeutschland und Deutschland insgesamt?
Die Unterrepräsentation von Ostdeutschen in der Politik generell ist, weiten wir einmal den Blick über das verhältnismäßig kleine Bundeskabinett hinaus, nur gering ausgeprägt. Allerdings sind Ostdeutsche in nahezu allen anderen bundesdeutschen Führungspositionen und selbst in Führungspositionen in Ostdeutschland deutlich seltener vertreten, als es ihrem Bevölkerungsanteil entspricht.
Neben der Frage nach ungleich verteilten Aufstiegschancen ist hier vor allem problematisch, dass der ostspezifische Erfahrungsschatz nicht ausreichend in Entscheidungsprozessen berücksichtigt wird und damit neue Perspektiven auf Problemlagen verschenkt werden. Als ostspezifisch wäre insbesondere die Erfahrung eines abrupten Systemumbruchs mit neuen Möglichkeiten und Unsicherheiten zu nennen.
Auch mit den Großtrends, wie demografischer Wandel, Landflucht, geringere Bedeutung alter und neuer zivilgesellschaftlicher Organisationen sowie Demokratieentfremdung, haben Ostdeutsche schon länger Erfahrung. Schließlich schmälert die Unterrepräsentation das Gefühl gleichberechtigter Teilhabe an Gesellschaft und Politik und führt zu Rückzugs- und Abwehrreaktionen in Ostdeutschland.
Streben Ostdeutsche denn generell weniger nach Macht- und Führungspositionen?
Das ist noch unbekannt, aber einen durchaus plausiblen Erklärungsversuch bildet die Tatsache der großen Unsicherheiten ab 1989. Diese könnten unter Ostdeutschen eine Bevorzugung sicherer beruflicher Laufbahnen tradiert haben, die jedoch nicht bis in Spitzenpositionen führen. Eine auf beruflichen oder sonstigen Präferenzen basierende Selbstexklusion wird jedoch als nachrangige Ursache für die Unterrepräsentation der Ostdeutschen diskutiert.
Bedeutender sind vielmehr Spätfolgen des Elitenimports aus Westdeutschland nach 1989, der westdeutsche Netzwerke der Macht in Ostdeutschland etabliert hat. Die darin Etablierten präferieren unbewusst Nachrücker mit westdeutscher Prägung und erhalten somit die Unterrepräsentation aufrecht.
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