Ein Konsortium unter Federführung der Universität Leipzig hat in umfangreichen Analysen tausender Tumore herausgefunden, dass unterschiedliche Krebsarten eine gemeinsame fehlerhafte Regulation bestimmter Gene aufweisen. Diese Gruppe von Genen steuert sonst den Prozess, durch den die vielen verschiedenen Zelltypen eines Menschen entstehen. Ihre Erkenntnisse veröffentlichten sie jetzt im renommierten Fachjournal „Scientific Reports“. Sie ermöglichen tiefere Einblicke in die Tumor-Entwicklung.
Die Suche nach epigenetischen Komponenten, die bei der Entstehung und Entwicklung von Tumoren eine Rolle spielen, ist in den vergangenen Jahren zu einem bedeutenden Gebiet der Krebsforschung geworden. Eine groß angelegte Studie unter Leitung der Universität Leipzig liefert nun entscheidende Hinweise auf einen gemeinsamen epigenetischen Mechanismus, der bei einer großen Zahl unterschiedlicher Krebsarten eine Rolle spielt. Forscher der Bioinformatik-Arbeitsgruppen von Dr. Dr. Steve Hoffmann und Prof. Dr. Peter F. Stadler an der Universität Leipzig analysierten zusammen mit Kollegen aus Ulm, Kiel, München und Straßburg tausende Datensätze aus internationalen Krebsforschungskonsortien. Dabei konnten sie zeigen, dass bei einem Großteil der etwa 20 untersuchten Krebstypen eine bestimmte Art von epigenetischer Regulation nicht mehr funktioniert, das sogenannte bivalente Chromatin.
Krebsspezifische Veränderungen jenseits des genetischen Codes
Unter dem Überbegriff Krebs wird eine Gruppe von Krankheitsbildern zusammengefasst, bei denen sich körpereigene Zellen unkontrolliert vermehren. Bei der Krebsentstehung spielen nicht nur Mutationen im genetischen Code eine Rolle, sondern auch Veränderungen in der Aktivität von Genen. Die DNA liegt im Zellkern in verpackter Form vor, wobei die Art der Verpackung mitbestimmt, wie die Erbinformation genutzt wird. Je besser verpackt die DNA ist, umso schwerer zugänglich sind die Gene und umso geringer ist deren Aktivität. Diese Art der Steuerung, die genau wie der genetische Code von Zelle zu Zelle vererbt werden kann, wird Epigenetik genannt.
Molekularbiologisch betrachtet zählen das Anhängen von Methylgruppen an die DNA – die DNA Methylierung – sowie kleine chemische Veränderungen an den Proteinkomplexen, um die die DNA im Zellkern gewickelt ist, zur Epigenetik. Ein Spezialfall der epigenetischen Verpackung wird als bivalentes Chromatin bezeichnet. Hier sind die verschiedenen epigenetischen Schalthebel eines Gens so eingestellt, dass dieses quasi Bereitschaftsdienst hat, also nicht aktiv ist, aber besonders schnell aktiviert werden kann. Bivalentes Chromatin wurde zuerst in sogenannten embryonalen Stammzellen beschrieben. Dort steuert es Gene, die einen wichtigen Einfluss auf die Zellentwicklung haben. Eine fehlerhafte Regulation dieser Gene kann mit Reifungsstörungen einhergehen und ist daher vor allem auch für die Krebsforschung von Interesse.
In der nun vorliegenden Arbeit stellte ein interdisziplinäres Forscherteam unter der Leitung von Dr. Dr. Steve Hoffmann und Dr. Stephan Bernhart von der Universität Leipzig eine bedeutende Veränderung des bivalenten Chromatins in einer großen Anzahl von Proben aus unterschiedlichen Tumoren fest. Diese Veränderung ging außerdem mit einer deutlich erhöhten DNA-Methylierung einher.
Letztere war bisher dafür bekannt, die Übertragung von DNA in RNA zu unterbinden. Tatsächlich stellten die Forscher jetzt jedoch eine Aktivierung der Zellentwicklungsgene fest. Das lässt vermuten, dass dieser Mechanismus zur Entstehung oder Weiterentwicklung von Tumoren beiträgt.
Unerwartete Ergebnisse liefern den entscheidenden Hinweis
„Wir analysierten Daten zu Lymphdrüsenkrebs. Dabei fiel uns auf, dass viele Gene, die epigenetisch abgeschalten sein sollten, verstärkt aktiv sind. Dieses unerwartete Ergebnis hat uns neugierig gemacht. Wir haben die Aktivität dieser Gene daher auch in anderen Krebsarten untersucht“, erklärt Bernhart. Zur Überraschung der Forscher beobachteten sie dort den gleichen Effekt. „Unsere Daten legen nahe, dass sich Krebsarten, die klinisch und biologisch sehr verschieden sind, in diesem Phänomen gleichen“, resümiert Prof. Dr. Reiner Siebert vom Institut für Humangenetik der Universitätsmedizin Ulm. Zusätzliche, an der Ludwig-Maximilians-Universität München (LMU) durchgeführte Experimente erhärteten die Hinweise auf eine verstärkte Aktivierung dieser Gene unabhängig von der Herkunft des Tumors.
Epigenetische Merkmale als Biomarker nutzbar
„Eine der wichtigen Aufgaben in der Krebsforschung ist es, eindeutig zwischen Tumorzellen und normalen Zellen zu unterscheiden. Wir konnten nun zeigen, dass die beobachteten epigenetischen Veränderungen sehr oft ausreichen, um eine präzise Vorhersage zu machen. Da wir das in allen 19 analysierten Krebstypen beobachten, könnte es sich hier um etwas handeln, das nicht nur für das Verständnis der Krebsentstehung und -entwicklung von Bedeutung ist, sondern auch für die klinische Praxis“, betont Hoffmann. Prof. Dr. Dr. Lesca Holdt vom Institut für Laboratoriumsmedizin an der LMU präzisiert: „Wenn eine Aktivierung bestimmter Gene im Tumorgewebe, aber nicht im gesunden Gewebe des gleichen Patienten nachgewiesen werden kann, dann ergeben sich hierdurch vielleicht auch neue diagnostische Ansätze.“
Datenintegration als zentrale Herausforderung bei „Big Data“
„Wir konnten uns bei unserer Analyse auf öffentlich verfügbare Datensätze stützen, die im Rahmen von internationalen Krebsforschungsplattformen erstellt wurden. Die über 10.000 Datensätze zu generieren, die in unsere Arbeit eingeflossen sind, wäre für eine einzelne Universität auch nicht zu stemmen“, sagt Stadler. Die verschiedenen Daten aus über einem Jahrzehnt internationaler Forschung zu integrieren und auszuwerten, sei eine große organisatorische und programmiertechnische Herausforderung gewesen.
Originaltitel der Fachveröffentlichung in „Scientific Reports“: „Changes of bivalent chromatin coincide with increased expression of developmental genes in cancer“
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