Herzerwärmende Bilder boten sich gestern mal wieder jenem Betrachter dar, der sich in Grundschulnähe herumzutreiben wusste. Überall niedliche Schulanfänger mit viel Verwandtschaft und wenigen Zähnen, denen Väter gutmütig überdimensionierte Zuckertüten nebenher trugen, während sich Großeltern nach dem Grade der Aufregung der kleinen Debütanten erkundigten. Idyllische Zufallseindrücke waren das, die einem fast glauben machten, die Welt sei vielleicht doch noch kein ganz so verkommener Ort, wie man gemeinhin anzunehmen bereit ist.
Und obwohl Schulanfangsfeiern mit dem tatsächlichen Schulalltag bekanntlich so viel miteinander zu tun haben wie Mallorca-Akne mit Baccardi-Feeling, müssen die Schulanfänger 2015 zumindest eines nicht fürchten: Dass nun für sie der Ernst des Lebens beginne. Denn der hat oft längst Einzug gehalten in das Leben eines Vorschulkindes. Einfach nur im Kindergarten rumtoben, bisschen “Beschäftigung” zu machen, liebevoll dargereicht von der Erzieherin, und ansonsten fröhlich abzuwarten, dass die Schule beginnt, ist einfach nicht mehr en vogue. Es gibt diese “Stunde Null” nicht mehr. Fünfjährige müssten ihren Namen schreiben können, heißt es zum Beispiel plötzlich. Besonders arme Suppen unter all den Luis-Lennoxen, Luis-Leons, Loris-Larsens, Labans, Lillys, Lena-Lisas, Lisa-Lenas, Laura-Linas und Lara-Labelles werden von Eltern zum Arzt geschleppt, der ihnen eine “auditive Wahrnehmungsstörung” attestieren soll, wenn sie es nicht fertig bringen.
Sie haben ständig Fertigkeiten zu beweisen, sollen nach Listen funktionieren, dass sie rückwärts eine Treppe hochgehen, über frustrierende Gefühle reden und sich selbständig ein Brot schmieren können. Am besten gleichzeitig. Dabei können das viele Erwachsene selbst nur ausgesprochen defizitär oder höchstens mit sehr viel liebevoller Ermunterung. Trotzdem: ABC-Schützen sollen die bestmögliche “frühkindliche Bildung”, wie es so freudlos heißt, bereits reproduzieren können. Manch einem wird sogar suggeriert, dass es mit vorbereitenden, kostenpflichtigen “Lerninstituten” für einen “erfolgreichen Schulstart” besser gelänge.
Vielleicht ist das auch alles gar nicht so falsch.
Je vorbereiteter ein Kind kommt, umso mehr steigt möglicherweise auch die Wahrscheinlichkeit, ein paar Schwachstellen des Ortes aufzudecken, an den es für die kommenden Jahre gebunden sein wird, auf Gedeih oder Verderb. Vielleicht ist dann bald schon mal ein Erstklässler in der Lage, ein paar kritische Fragen zu formulieren. Warum zum Beispiel immer noch – teilweise ohne jeglichen Sachverstand – zuhauf immer neue Unterrichtsmittel konstruiert und auf den Markt geworfen werden. Oder warum sich Lehrkräfte ständig mit den bis aufs Blut überstrapazierten Begriffen wie “neuer Unterricht” und “neue Unterrichtsformen” auseinanderzusetzen haben, als generiere sich ständig ein Mensch neuen Typs?
Das wäre doch wünschenswert! Denn tatsächlich ist es ein Graus, wie sehr man es heutzutage schafft, mit den Ängsten von Eltern zu arbeiten. Eltern sind und bleiben nun einmal die besten Zielscheiben für Geschosse geschürter Angst: Was, wenn das eigene Kind nicht standhält in der Gesellschaft? Wenn es nicht zurechtkommt mit dem ganzen Kram, der Leben heißt? Hat man es etwa selber schief in die Welt gestellt? Es ist immer wieder diese Angst, die uns lähmt, unsicher macht, in Aktionismus verfallen lässt.
Und dabei sollten wir doch genau diese Angst von den Kindern fernhalten, sie mit der Chuzpe einer Pippi-Langstrumpf versehen und ihnen nur eines übers Lernen sagen: Dass es ausschließlich der Vorfreude auf sich selbst dienen sollte, darauf, was man jetzt oder irgendwann später alles damit anstellen kann.
Angesichts des Zustandes unserer Welt und der Entwicklung der Menschheit kann man doch unmöglich gesicherte Lerninhalte und “Kernkompetenzen” eines Menschen festzurren! Das peinliche Fazit heißt doch eigentlich: Der Mensch wird größer heutzutage, lebt etwas länger und ist effizienter beim Töten geworden.
Darüber könnte man resignieren.
Oder eben dagegen ankämpfen, weil man das Gegenteil beweisen will. Indem man stoisch weiter damit macht, Kindern mitzugeben, dass der Sinn des Lebens eben NICHT darin besteht, Ängste zu haben und diese auszuleben, indem man andere klein hält oder zu machen trachtet? Dass der Sinn des Lebens das Leben an sich ist, dass man nicht fordert und resigniert ob des ausbleibenden Erfolges, sondern lebt und leben lässt! Dass man glücklich wird, dadurch, dass man andere glücklich macht und trotzdem ein wenig auf sich selber aufpasst?
Vielleicht reicht es gar aus, eine gute Generation heranzuziehen, wenn man sein(e) Kind(er) liebt, miteinander Musik macht, lacht, lacht, lacht, Theater spielt, sich in den Arm nimmt – nur des Menschen wegen? Nicht aufgrund eines Zweckes, eines Zieles …? Weil es Begegnungen sind, die einen erfüllen? Momente der Selbstvergessenheit und der Euphorie? Momente des gemeinsamen Ringens um eine gute Sache? Weil man auch ruhig ab und zu mal etwas machen darf, was die Krankenkasse, der Beichtvater, die Schwiegermutter, die Apple Watch und/oder das Über-Ich so richtig kacke finden würde? Etwas, das sich nicht rechnet, das nicht gewogen, gemessen, evaluiert werden kann? Etwas zutiefst vernünftig Unvernünftiges eben.
Dass man schon sehr junge Menschen lehrt, dass man sich nichts nimmt und auch nichts verteidigen muss, was einem vermeintlich zusteht? Dass man andere nicht belästigt mit Fahnenaufmärschen und unterschwelligen Drohungen, die man als eigene “Sorgen und Nöte” verbrämt? Denn bedenken wir: Alles, was man sich mit Gewalt angeeignet hat, wird nur mit Gewalt zu halten sein.
Dass das Leben fetzt, wenn man gelöst und miteinander im Gespräch bleibt.
Auch scharfzüngig gern. Dass man sich auch mal ein paar Tage aus dem Weg gehen kann. Dass man im Kopf alleine bleiben muss, weil Gruppendynamik im Gehirn der Menschheit eben noch nie weitergeholfen hat.
Wünschen wir den Schulanfängern von heute doch einfach, dass sie im Koppe alleine bleiben und im Herzen beieinander. Dann wird es zwar nicht interessanter auf der Welt. Weil die Welt eben schon verdammt interessant ist. Aber es könnten vielleicht mehr an dieser Schönheit teilhaben.
Das Allerwichtigste aber sollte man ihnen auf gar keinen Fall vorenthalten: Dass Leuten, die einen mit dem “Ernst des Lebens” ängstigen oder langweilen wollen, gefälligst die Zunge rausgestreckt wird. Und zwar ganz, ganz weit!
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