Ein pathologisches Phänomen ereilte jüngst Leipziger CDU-Politiker: im L-IZ-Artikel vom 11.10. wurde das physische Unbehagen in der Magengegend zweier CDU-Stadträte beunruhigendes Thema. Wiederholt wurde zum Ausdruck gebracht, dass Andrea Niermann und Michael Weickert, die für die CDU im Fachausschuss Kultur sitzen, „ein mulmiges Gefühl im Bauch bekommen“, sobald Kulturakteure in die Diskussion über die Kulturentwicklung der Stadt einbezogen werden. Strategische kulturpolitische Entscheidungsprozesse seien „originäre Entscheidungsfelder der Stadtratsfraktionen und der Kulturverwaltung“ – so die Meinung von Stadträtin Andrea Niermann.
Das sehen wir, die Vertreter_innen von Leipzig + Kultur, anders und möchten kurz begründen, warum. Es gibt offensichtlich zwei ganz unterschiedliche Auffassungen von politischer Kommunikation: Die eine besagt, man kann und sollte grundsätzlich die Menschen, die von politischen Entscheidungen betroffen sind, in Diskussionen einbeziehen und offene Strukturen schaffen, um nach geeigneten Lösungen für alle zu suchen. Diese offene Herangehensweise wird nicht nur in politischen und gesellschaftlichen Bereichen und in Unternehmen erfolgreich praktiziert, sondern überall, wo verschiedene Interessen aufeinandertreffen.
Die andere Auffassung ist das Top-down-Prinzip, ein hierarchisches Denken, nach dem die Stadträte auf Grund ihres politischen Mandats entscheiden. Ein Einbeziehen von Akteuren soll nach dieser Auffassung verhindert werden, zumindest wird sie als hoch problematisch betrachtet, weil den Akteuren unterstellt wird, sie seien von Eigeninteressen geleitet und deshalb schlechte Ratgeber.
Menschen, die in Prozesse involviert sind, prinzipiell abzusprechen, die Komplexität der sie umgebenden Themenfelder und Prozesse erfassen zu können, entbehrt nicht nur jeder Grundlage, es begünstigt Intransparenz, Geklüngel (man denke an den Sachsensumpf) und führt letztlich zur Politikverdrossenheit der Bürger. Selbst führende Bundespolitiker werden von der Frage getrieben: Wie schaffen wir es, verantwortungsvolle Menschen einzubeziehen, wahrhaft zu beteiligen? In der Sachsen-CDU ticken die Uhren leider etwas vorgestrig. Transparenz und Partizipation sind die zentralen Forderungen von Leipzig + Kultur an die Kulturpolitik. Wir wollen verantwortungsvoll an Entscheidungsprozessen mitwirken. Wer kann besser einschätzen, welche Maßnahmen zielführend sind und welche nicht, als die, die es betrifft? Dass es sinnvoll ist, wenn diese Fachleute politische Entscheidungsträger, die noch nie eine Oper, ein Konzerthaus, ein freies Kulturzentrum oder eine Theaterinitiative geleitet haben, in kulturellen Fragen beraten, liegt doch auf der Hand.
Vor einem Jahr lud Leipzig + Kultur renommierte Kulturwissenschaftler und erfahrene Kulturakteure aus ganz Europa zu einem Internationalen Kulturkongress nach Leipzig ein, mit dem Ergebnis vieler konkreter Vorschläge, wie sich Leipzig in Zukunft kulturell weiterentwickeln kann. Aber auch konkrete strukturelle Veränderungsvorschläge liegen auf dem Tisch. Das Ziel, das wir verfolgen, ist kein eigennütziges, sondern das gleiche, das auch die Kulturpolitik umtreibt: einen geeigneten Rahmen für die kulturelle Vielfalt eines weltoffenen Leipzigs der Zukunft zu schaffen.
Damit wir die Zusammenarbeit verstetigen können, befürworten wir ausdrücklich ein Gremium wie einen Kulturrat, in dem von uns gewählte Vertreter_innen ihre Erfahrungen einbringen, Entwicklungspläne mitentwickeln, Zielsetzungen formulieren, Förderentscheidungen mittragen und an Evaluierungen mitwirken. Das jedenfalls ist unser Verständnis von Transparenz und Partizipation.
Seit dem Kongress hat sich in der Zusammenarbeit zwischen freien Künstler_innen und Politiker_innen viel getan: alle sechs Wochen trafen sich die Sprecher_innen von Leipzig + Kultur mit Vertreter_innen aller Stadtratsfraktionen zu einem kontinuierlichen Dialog am Runden Tisch, konnten gegenseitig Vertrauen aufbauen und konkrete politische Weichenstellungen vorbereiten: mit der kürzlich verabschiedeten Rahmenrichtlinie der Stadt Leipzig wurden rechtliche Grundlagen geschaffen, um die Arbeitsbedingungen freier Künstler_innen zu verbessern.
Dass Kulturbürgermeisterin Skadi Jennicke politische Kultur anders auffasst, als die Leipziger CDU, freut uns sehr. Die von ihr ins Leben gerufene Podiumsgesprächsreihe „Impuls Kulturpolitik“ eröffnete sie mit einem Zusammentreffen der Intendanten der vier Eigenbetriebe Oper, Schauspiel, TdJW und Gewandhaus mit Vertreter_innen der Freien Kulturszene und stieß damit einen Dialog an, der möglicherweise zu völlig neuen Formen der Zusammenarbeit führen wird. Der Fachausschuss Kultur hat dafür bereits eine Grundlage geschaffen: an die Zusicherung der Finanzierung der Leipziger Eigenbetriebe bis 2020 wurde die Erwartung gekoppelt, mit der Freien Szene Leipzigs zusammen zu arbeiten.
Innovationen, Synergieeffekte, Wege in die Zukunft eröffnet man, indem man Menschen zusammenbringt, zum Mitdenken und Mitgestalten einlädt. Warum dies ein mulmiges Gefühl bei Andrea Niermann und Michael Weickert auslöst, könnte verschiedene Ursachen haben. Vielleicht spüren sie, dass die politische Konkurrenz damit richtig liegt…
CDU-Fraktion wehrt sich deutlich gegen die Pläne, einen Kulturbeirat oder gar einen Kulturrat einzurichten
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