Von Mathias Reimann: Sehr geehrte Redaktion, in Ermangelung eines direkt benannten Autors wende ich mich an Sie. Ich kann nur den Kopf darüber schütteln, dass Sie hier unkommentiert und im Gewand eines redaktionellen Beitrags einen Aufruf zu einer Demonstration veröffentlichen, deren Anliegen kritisch zu beleuchten Ihre eigentliche Aufgabe wäre. Mir war bisher nicht bekannt, dass die von mir eigentlich geschätzte L-IZ sich als Forum zur Verbreitung und Förderung von Kreml-Propaganda betätigt.

Diese Kundgebung/Demonstration sollte besser in Moskau stattfinden und an die russische Regierung müsste dort die Frage gerichtet werden, was sie von individuellen Freiheiten und dem Recht der Menschen auf Selbstbestimmung sowohl in Russland als auch in der Ukraine hält.

So weit ich weiß, sitzen Sie im Haus der Demokratie, dass es wohl in dieser Form nicht gäbe, wenn 1989 der Freiheitswille der ehemaligen Ostblockbewohner in ähnlich perfider Weise, wie dies der Kreml jetzt in der Ukraine bewerkstelligt, Machtinteressen geopfert und durch massive Gewalt und üble und zynische Konspiration unterdrückt worden wäre. Es sollte eigentlich nicht so schwer sein, diese Analogien zu erkennen. Vielleicht denken Sie daran, wenn Sie das nächste Mal erwägen, so etwas zu veröffentlichen.

Mit freundlichen Grüßen,
Mathias Reimann

Zum Beitrag vom 22. April 2014 auf L-IZ.de
Kundgebung für Frieden und Dialog mit Russland und der Ukraine
Sehr geehrter Herr Reimann,

Danke für Ihre Hinweise und Anmerkungen. Ehrlicherweise bin ich jedoch fassungslos, wie Sie an meiner Antwort deutlich erkennen werden. Nach einigem Überlegen also ein paar Zeilen zu Ihrem Einwurf, nicht zuletzt, da Sie sich auf 1989 beziehen. Zum Verständnis von Medien allgemein vorab: Eine veröffentlichte Ankündigung zu Demonstrationen etc. stellt schwerlich eine Parteinahme einer Zeitung dar. Sonst wäre die L-IZ.de nach unzähligen Vorabveröffentlichungen von NPD-Demonstrationsterminen eine rechte Zeitung (Beispiel).

Das Unterlassen einer Veröffentlichung solcher Informationen hingegen kann (und wird auch längst in der Praxis) durchaus als Unterdrückung von bestimmten Informationen verstanden. Eine Leipziger Demonstration gegen Russland, gegen den Petersburger Dialog oder für eine militärische Auseinandersetzung mit Russland ist uns jedoch derzeit nicht bekannt. Sollte es also Demonstrationen geben, welche einen Kriegseintritt der NATO gegen Russland fordern, würden wir diese veröffentlichen.

Als erstes zu den Fakten: Aus dem sicher “Nicht-Kreml-Propaganda-Blatt” Focus Online (DPA-Meldung) die Mitteilung dazu, wer hier absagt: “Wegen des russischen Vorgehens in der Ukraine wurde der “Petersburg Dialog” von üblicherweise zwei Tagen Dauer auf wenige Stunden zusammengestrichen. Die normalerweise gleichzeitig stattfindenden deutsch-russischen Regierungskonsultationen sagte Berlin ganz ab.”

http://www.focus.de/politik/ausland/konflikte-deutsch-russischer-petersburger-dialog-tagt-trotz-krise_id_3792519.html

Zu Ihrem Schreiben selbst gibt es zudem ein paar Fragen. Die erste Frage, welche hier wohl zu klären wäre ist, ob ganz allgemein Gespräche oder bewaffnete Auseinandersetzungen zu bevorzugen sind. Diesbezüglich habe ich zumindest eine klare Haltung, es sind die Gespräche oder der unbedingte Wille dazu. Dabei ist es immer leicht vom Frieden zu plappern, wenn man ihn quasi geschenkt bekommt und nichts dafür tun muss (Reden, Diskutieren, Verstehen, Widerlegen). Diese Haltung korrespondiert übrigens durchaus enger und besser als Ihre Zeilen mit der 89er Forderung “Keine Gewalt”.

Die nächste Frage, welche sich mir stellt, ist die nach der Möglichkeit der freien Meinungsäußerung in einer Demokratie. Hier derer, welche, laut Begründung der Kundgebung, der Verkürzung der Gesprächszeit (siehe erste Frage) und dem Aussparen von Themen in einer angespannten Situation zwischen EU/NATO/USA und Russland auf einer etablierten Leipziger Veranstaltung offensichtlich nicht widerspruchslos zuschauen wollen. Diese erhalten von Ihnen ein Etikett und das lautet: Böse.

Der Begriff “Kreml-Propaganda” ist für mich ein Hinweis auf bereits verfestigte Feindbilder, dies war immer der Beginn einer nächsten Eskalationsstufe. Sie wissen hoffentlich, dass der Verein, welcher die Kundgebung veranstaltet ebenfalls im Haus der Demokratie seinen Sitz hat. Falls Sie sich also interessieren, was dieser Verein sonst so tut, hier finden Sie einige Einstiegsinformationen http://www.hddl.de/de-de/mieter/buero-druz.htm .

Die alleinige Zuweisung der Unterdrückung in der DDR an Russland ist für mich die gleiche Lüge, wie “Hitler hat den zweiten Weltkrieg ganz allein veranstaltet”. Sie ist bequem, entlastet einen von der eigenen Verantwortung und kostet nichts. Diese alleinige! Zuweisung der Unterdrückung vieler Menschen in der DDR an Russland verschweigt die hunderttausenden überzeugten deutschen! SED-Anhänger, Blockflöten, Stasimitarbeiter und vieles mehr. Für mich schlicht eine Geschichtsklitterung sondergleichen Ihrerseits. Aber sie hat in Deutschland Tradition: Nach dem 2. Weltkrieg war keiner bei der SS, niemand in der NSDAP und natürlich hat man Hitler nie zugejubelt.

Sie schreiben “Siegerjustiz” unter Entlassung aller Mitschuldigen in der DDR und stellen selbst mittels angeblicher “moralischer Überlegenheit” ihrer Position eine These über Schuld und Unschuld in einem reichlich verworrenen Konflikt in der Ukraine auf. Wissen Sie, dass wir bis hier wirklich alles richtig gemacht haben und gänzlich frei von Schuld sind? Den Stein haben Sie jedenfalls schon in der Hand.

Was wäre, wenn sich wider Ihres Erwarten herausstellt, dass die Maidan-Revolution mit Unterstützung westlicher Geheimdienste und westlichem Geld vollzogen wurde? Ich werde es Ihnen nicht gleichtun, also unterlasse ich es, dies in den Fakten und moralisch zu bewerten, da ich nicht über Dinge spekuliere, deren Wahrheitsgehalt mir nicht klar scheint.

Das der Widerstand auch in Russland gegen eine Kriegsgefahr existent ist und noch wachsen muss, werden die kommenden Wochen zeigen müssen. Dies ist Sache der Menschen, die dort leben und ja – sicher nicht so komfortabel, wie wir, die wir uns hier streiten können, ob eine Kundgebung nun berechtigt oder nicht berechtigt ist.

Aber was wäre eigentlich, wenn wir uns nun bereits mitschuldig machen an Kriegsvorbereitungen unserer Seite? Was wäre eigentlich, wenn wir erneut nur auf die Fehler der “Gegenseite” starren und dabei das Handeln derer aus den Augen verlieren, welche wir zumindest wählen oder eben nicht wählen können?

Was wäre, wenn wir vielleicht das erste Mal nach 89 den Ruf “Keine Gewalt” wirklich umsetzen würden? Oder wollen wir mit Ihrer moralischen Überlegenheit in einen Krieg ziehen, weil uns angeblich die Russen dazu zwingen? Das taten unsere Vorfahren schon 1914 und 1939 – und sie fühlten sich dabei stets von ihren Nachbarn bedroht und also im Recht. Heute – bezieht man alle Kriegsverbrechen in beiden Kriegen aller Seiten ein – rund 100 Millionen Tote später, sehen wir das anders. Oder?

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