Am 19. Februar 2011 demonstrierten Zehntausende Menschen in Dresden gegen den Missbrauch des Gedenkens durch die Nazis. Anschließend überzog die Staatsanwaltschaft Dresden Hunderte friedlicher Demonstranten mit Ermittlungsverfahren, die jahrelang andauerten. Auch Falk Neubert, Landtagsabgeordneter der Linken, wurde im vergangenen Jahr durch das Amtsgericht Dresden wegen angeblicher Störung von Aufzügen verurteilt.

Er hatte sich entschlossen, friedlich und gewaltfrei auf der Straßenkreuzung Fritz-Löffler-Straße/Reichenbachstraße gegen den geplanten Naziaufmarsch, der an diesem Ort entlangführen sollte, zu demonstrieren. Gegen die Verurteilung legte Neubert Revision ein, doch das Oberlandesgericht Dresden blieb seiner Linie treu und bestätigte die Entscheidung des Amtsgerichts.

Nun kommt der Fall sowohl vor das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe, als auch vor den Verfassungsgerichtshof in Leipzig. Der Dresdner Rechtsanwalt André Schollbach hat im Auftrag Neuberts bei beiden Gerichten Verfassungsbeschwerde eingelegt. In umfangreichen Beschwerdeschriftsätzen (60 Seiten und 58 Seiten) wird detailliert die Verfassungswidrigkeit der Kriminalisierung der friedlichen Anti-Nazi-Demonstration und der Verurteilung Neuberts dargelegt. Das Urteil des Amtsgerichts Dresden verletze das sich aus Art. 8 Abs. 1 GG und Art. 23 Abs. 1 SächsVerf ergebende Grundrecht der Versammlungsfreiheit sowie das sich aus Art. 103 Abs. 2 GG ergebende Analogieverbot.

Anwalt Schollbach argumentiert, dass die friedliche Präsenz einer Gegenversammlung (Anti-Nazi-Demonstration) nicht als zu unterlassende grobe Störung einer Versammlung (Nazi-Demonstration) aufgefasst werden kann. „Denn Art. 8 Abs. 1 GG begründet nicht das Recht, ohne kritische Gegendemonstration zu demonstrieren – vielmehr nehmen die Gegendemonstranten ihrerseits ebenfalls das Grundrecht der Versammlungsfreiheit aus Art. 8 Abs. 1 GG wahr. Soweit Beeinträchtigungen für eine Versammlung von einer Gegendemonstration ausgehen, stehen einander gleichgewichtige Grundrechtspositionen gegenüber“, schreibt Schollbach. Weiter rügt der Anwalt u. a., dass es in dem amtsgerichtlichen Urteil „gänzlich an einer Abwägung fehlt, ob die Verurteilung des Beschwerdeführers mit Blick auf die Versammlungsfreiheit gerechtfertigt ist. Weder der Terminus ‚Versammlungsfreiheit’ noch Art. 8 Abs. 1 GG haben in dem amtsgerichtlichen Urteil auch nur Erwähnung gefunden.“

Dazu erklärt der Landtagsabgeordnete Falk Neubert:

„Wir kämpfen stellvertretend für die vielen Menschen, die am 19. Februar 2011 friedlich an der Anti-Nazi-Demonstration teilgenommen haben, gegen die Kriminalisierung zivilgesellschaftlichen Protests. Wir haben bereits einen steinigen Weg durch die sächsische Justiz zurückgelegt. Von den bisherigen Entscheidungen bin ich nicht im Geringsten überrascht. Insbesondere der dreitägige Prozess vor dem Amtsgericht Dresden hatte kuriose Züge.“

Dazu erklärt der Dresdner Rechtsanwalt André Schollbach:

„Unser Ziel besteht darin, die in Sachsen praktizierte strafrechtliche Verfolgung friedlicher Anti-Nazi-Proteste zu stoppen. Ich bin zuversichtlich, dass uns dies mit den Verfassungsbeschwerden gelingen wird.“

Stand der Ermittlungs- und Strafverfahren wegen  Verstoßes gegen Versammlungsgesetz am 19. 2.2011 in Dresden

Von der Staatsanwaltschaft Dresden wurden wegen Verstoßes gegen § 21 VersammlG (Versammlungsgesetz) am 19. Februar 2011 in Dresden insgesamt 489 Verfahren eingeleitet, davon 311 Verfahren gegen namentlich bekannte Tatverdächtige und 178 Verfahren gegen namentlich unbekannte Beschuldigte.

Von diesen Ermittlungsverfahren wurden durch die Staatsanwaltschaft Dresden 172 gemäß § 170 Abs. 2 StPO, 23 gemäß § 153 Abs. 1 StPO und 82 gemäß § 153a Abs. 1 StPO eingestellt.

Die Staatsanwaltschaft Dresden beantragte weiterhin in 77 Fällen bei dem Amtsgericht den Erlass eines Strafbefehls und erhob 3 Anklagen vor dem Jugendrichter. 11 Strafbefehle sind in Rechtskraft erwachsen. In weiteren 6 Fällen liegt eine rechtskräftige Verurteilung vor. Zudem wurden die Angeklagten in 3 Fällen rechtskräftig freigesprochen. Weiterhin wurden durch das Amtsgericht 50 Strafverfahren gemäß § 153 Abs. 1 StPO und 2 Verfahren gemäß § 153a Abs. 1 StPO eingestellt.

Damit wurden im Bereich abgeschlossener Verfahren bisher gegen 101 Menschen strafrechtliche Sanktionen (11 Strafbefehle, 6 Verurteilungen, 84 Einstellungen gemäß § 153a StPO) verhängt.

Auswertung aufgrund der Antworten auf eine Kleine Anfrage von Falk Neubert (Landtags-Drucksache 6/624):
http://edas.landtag.sachsen.de/viewer.aspx?dok_nr=624&dok_art=Drs&leg_per=6&pos_dok=1
http://edas.landtag.sachsen.de/viewer.aspx?dok_nr=624&dok_art=Drs&leg_per=6&pos_dok=2
http://edas.landtag.sachsen.de/viewer.aspx?dok_nr=624&dok_art=Drs&leg_per=6&pos_dok=3

Verfassungsbeschwerde Johannes Lichdi vom 26. November 2014
http://www.johannes-lichdi.de/fileadmin/user_upload/Judica/14-11-6.VB-SaechsVerfGH.pdf

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