Der „Megastreik“ ist keine Woche her und alle Räder rollen wieder, als hätten sie nie stillgestanden. Nach einer allzu üblichen Medienschelte gibt es wie immer weitere Tarifverhandlungen, bis sich demnächst die Löhne auf ein für „die Wirtschaft“ vertretbares Mindestmaß eingepegelt haben.
Schließlich müssen wir alle den Gürtel enger schnallen, sagen sie, und dreschen ein auf die „überzogenen“ und „unverantwortlichen“, am besten sogar „unsolidarischen“ Vorstellungen der Gewerkschaften, was ein Mensch, der Züge bedient, auf dem Lohnzettel haben soll.
Der Leipziger Verwaltungsbürgermeister Hörning – wohlgemerkt: Sozialdemokrat – spricht sogar von „Streikfestspielen“ und „warnt“ vor zu hohen Löhnen. Oder wie Die PARTEI zu sagen pflegt: #LOLSPD. Das findet ihr MP in spe a.D. ganz und gar unsportlich – und streikt mit.
Darum sollte an dieser Stelle eigentlich ein großes Nichts folgen, um meinen Solidaritätsstreik zu demonstrieren. Doch weder hat die Gewerkschaft, der ich nicht angehöre, etwas davon, noch wird jetzt die BILD anfangen, wütend-populistische Hetzartikel über meine Untätigkeit zu schreiben und darin die schlimmen, schlimmen Folgen für die „kleinen Leute“ betonen, die wegen meiner „egoistischen“ Bedürfnisse leiden müssen.
Es interessiert sich also wirklich niemand dafür, ob hier etwas steht oder nicht. Also natürlich meine Redaktion, aber wie will ich von denen Geld abpressen? Das setzt schließlich Geld voraus! Wir erinnern uns: Die üblichen Löhne für die Angehörigen der schreibenden Zunft sind mager. Lange ist es her, dass Journalismus einen reich gedeckten Tisch versprach, mit Spesen, Reisen und noblen Hotels.
Die Zeiten sind vorbei. Zuletzt lamentierte eine Journalistin zu Recht, dass sie für einen mehrseitigen Artikel, mit Vorort-Recherchen, Interviews und viel Denkarbeit von der taz sagenhafte 90 Euro erhalten hat. Sie können sich nun ausrechnen, warum die Mehrheit der Artikel im hiesigen Zeitungsland nicht allzu gut recherchiert sind.
Wünschenswert wäre es durchaus: Die Belegschaften der großen Leitartikler dieser Republik unterbrechen ihre Schreiberei für eine Woche. Oder zehn. Man stelle sich vor, die unzähligen Pressemeldungen aus den Ministerien, Unternehmen, Thinktanks und PR-Agenturen würden ungelesen in den Postfächern vergammeln.
Der Zeitungsstand wäre leer, die Startseiten der Presseorgane führten wochenalte Artikel, die Talkshows fielen aus, die Chatgruppen wären verödet, weil niemand mehr über diesen oder jenen Artikel sich echauffierte.
Doch in dieser Gesellschaft sind Medien nun einmal systemrelevant. Sie sagen der mündigen Bürgerin, wie man dieses oder jenes zu verstehen hat. Nach politischem Geschmack sortiert, kann man alle möglichen Vorgänge auf diesem Planeten sich zurechtlegen lassen. Das nennt man dann Meinungsbildung. Wer da wen bildet, also die Lesenden sich durch die Produkte der Redaktionen, oder ob eher die Redaktionen die Meinungsbilder der Lesenden gestalten, ist leicht zu beantworten: letzteres.
Diese radikal-marxistische Einstellung, dass die Leserschaft nicht ganz verblödet ist, und sich Rat anliest, wie man die großen und kleinen Weltereignisse zu sehen hat, dabei aber letztlich doch ganz schön verblödet, wenn man sich die vorgelegten Erklärungen in taz bis Welt so anschaut, ist immer noch die plausibelste, die mir bis jetzt untergekommen ist.
Und das können Sie mir glauben: Ich bin eigentlich ganz anders als die Schreiberlinge da draußen, die Ihnen eine Meinung unterjubeln wollen, um Ihnen ihre ideologische Weltsicht aufzudrücken. Und Ihnen das Ganze auch noch als stichhaltig verkaufen. Denn ich streike hiermit!
Holt schon mal die Warnweste raus
Ihr MP in spe a.D.
Tom Rodig
„Rodig reflektiert: Diese Kolumne wird bestreikt“ erschien erstmals am 31. März 2023 in der aktuellen Printausgabe der Leipziger Zeitung (LZ). Unsere Nummer 111 der LZ finden Sie neben Großmärkten und Presseshops unter anderem bei diesen Szenehändlern.
Keine Kommentare bisher