Nichts Neues im Osten. Das Virus durchseucht noch jede Nachricht, Trendsportart Spazierengehen ist der heißeste Scheiß seit 1742 und der Russe will Krieg. Die ewig gleiche Wiederholung des Ewiggleichen wiederholt sich ewig gleich einer ewiglichen Wiederholung. Ihr Kolumnist ist nachhaltig penetriert vom nimmermüden Stampfen der Neuigkeiten, Neuheiten und sogenannten Innovationen, die einen elektrifizierten Schwanz noch neuerer Neuheiten nach sich ziehen.

Das spätrömisch gelaunte Großreich des Westens dämmert unmotiviert hinein in die eigene Abschaffung, während sich ihre finanzkräftigen Vorsteher in den Weltraum schießen lassen und dabei vergessen, die Rückholmechanismen wegzulassen.Unterdessen poltern die Ideologien der Selbstdarstellung und Selbstoptimierung durch die Kanäle und eine sinnvolle Antwort zu finden auf Lenins Frage nach dem „Was tun?“, ist aussichtsloser denn je. Gehen wir also die Wege durch, die noch den leisesten Hauch der Veränderung versprechen. Denn zu erkennen, dass sich etwas ändern muss, dafür reicht ein kurzer Blick in die Welt – falls Sie, liebe Leserinnen, vor Gähnen noch die Augen aufbekommen.

1. „Be the change, you wanna see“ – oder: ändere nicht die anderen, ändere zuerst dich

Die Welt ist eine Welt voller Selbstoptimierungsmanager geworden. Zeitmanagement, Wutmanagement, Erziehungsmanagement, Selbstmanagement. Zum Preis von Konformität gibt es im Austausch das wohlige Gefühl von Kontrolle. Aus den Lautsprechern der gesellschaftlichen Fabrik schreit es, man müsse sich nur zusammenreißen.

Im Grunde eine ulkige Formulierung, denn zusammenreißen trägt bereits einen Widerspruch in sich und genauso muss man ihn auch verstehen: „Reiß dich zusammen“ oder „Machs doch einfach“ ist ungefähr so praktisch umsetzbar, wie einem Menschen mit gebrochenen Beinen zu sagen „Los, lauf!“. Die Angst – verinnerlichte Erkenntnis, man könne jederzeit versagen – ist ein mächtiges Gefühl. Und nur weil es „bloß“ ein Gefühl ist, setzt es dennoch Kräfte frei. Oder hält sie im Zaum. Der Weg der individualisierten Optimierung ist der Weg in die Isolation, nicht aus ihr hinaus.

2. Trainspotting – oder: ändere nicht die anderen, und dich erst recht nicht

Im Edinborough der späten 80er Jahre ziehen Rents und Sickboy und Spud und Begbie um die Häuser, jeder von ihnen mit genug Abscheu gegenüber den Normalos für zehn. Im Gepäck: Wut, Sehnsucht und Opiate. Ihre Zeit verbringen sie damit, Zeit totzuschlagen, Arbeit tunlichst zu vermeiden (zum Beispiel, wenn Spud mit der ganzen Nase voller Amphetamine fachmännisch ein Bewerbungsgespräch verkackt) und sich Heroin in die Venen zu pumpen.

Doch letztlich suchen sie nur einen Ausweg, der sich partout nicht auftun will. Wohlgemerkt ist dies vor allem eine Strategie, um der Langeweile zu entkommen, in einer Zeit, in der die Verschaltung der Welt nicht mit digitalen Mitteln möglich und mediale Selbstdarstellung auf die Massenmedien beschränkt war.

Zudem ist Heroinsucht bekanntlich ein sehr zuverlässiger Weg in die Selbstzerstörung. Und letztlich kann es das Glück des einzelnen Menschen nur zusammen mit dem Glück aller geben. Dazu sind die bestehenden Verhältnisse allerdings gar nicht eingerichtet, und so muss man am Ende wohl oder übel das Bestehende umpusten.

3. Chaostage – oder: ändere alles, indem du alles kaputtmachst

Als 1982 die Dead Kennedys auf Deutschlandtour gingen, hatten sie maßgeblichen Anteil am Entstehen der ersten Chaostage.

So berichtet Karl Nagel, einer der Initiatoren der Chaostage und Säulenheiliger des Punk, von einem Konzert der Band: „Es gelang uns, irgendwie über die Reihen breitschultriger Ordner-Arschlöcher Kontakt mit dem DK-Schlagzeuger aufzunehmen, und kurze Zeit später war die ganze Band über die Sache informiert. Kurzerhand wurde der Song ‚Nazi-Punks – Fuck Off!‘ zu ‚Chaos Day – Chaos Day‘ umgetauft, und Wolle wurde auf die Bühne geholt, um die Werbetrommel für unser Treffen zu rühren. Wolle fuhr dann auch den Rest der Tour mit, um auch in anderen Städten zum CHAOS-TAG einzuladen…“

Das Titelblatt der LEIPZIGER ZEITUNG Nr. 98, Januar 2022. Foto: LZ

Der Plan, möglichst viele Punks zusammenzutrommeln, um die sog. „Punker-Kartei“ mit Personen zu fluten und damit der Polizei Hannover – die hatte jene Kartei angelegt – das Leben schwerzumachen, war erfolgreich.

Ab Anfang der 80er bis Mitte der 90er kam es immer wieder im Rahmen der Chaostage zu – wahrhaft chaotischen – Ausschreitungen, Straßenschlachten mit der Polizei, Plünderungen und vielen anderen Aktivitäten, die alles in allem sehr unterhaltsam anmuten.

Doch blieben diese Ereignisse punktuell. Man könnte sogar sagen, die Versuche in den 2000ern, die Hochzeiten wieder zu erreichen, waren gescheitert und nur noch Abglanz von früheren Tagen. Die Chaostage wurden zur Folklore (Rodig reflektierte dazu bereits in Ausgabe 96).

Andere Ereignisse, wie der G8-Gipfel 2007 in Heiligendamm oder der G20-Gipfel 2017 in Hamburg ließen zumindest einen flüchtigen Blick auf die Möglichkeiten einer gemeinsamen Aktion zu, eines gemeinsamen Ziels, wenn auch nur symbolisch.

Denn an der mörderischen Politik hat es nicht viel geändert. Das Walten der Angstmaschine Kapitalismus geht weiter und das bisschen Protest – es juckt die Maschine nur marginal. Ihr Polizeiapparat hat sich über die Jahre so verfeinert, die Gesellschaft erzittert vor Zorn, wenn auch nur ein Kleinwagen in Flammen aufgeht, während die Erde brennt und keinen stört’s.

4. Sich lustig machen – oder: ändere alle, indem du sie auslachst

Meine Politisierung fand in Leipzig statt, Mitte der 2000er Jahre. Ich begann den „Spiegel“ zu lesen und schnupperte die ersten modernden Noten einer Welt, die nicht ganz in Ordnung schien. Eine ganz besondere Note hatte das Ganze in Ostdeutschland gewonnen. Die sogenannten Baseballschlägerjahre waren vorüber, aber dennoch gab es sie, jetzt auch im Anzug und im sächsischen Parlament: Neonazis.

Durch meine unscheinbare Kartoffeligkeit von jedwedem Fremdenhass verschont geblieben, kam ich in Kontakt mit der ominösen beglatzten Masse über einen Schulfreund, der in Nowosibirsk geboren war. Er kam mit 7 Jahren und starkem russischen Akzent nach Deutschland, und zu allem Übel auch noch Ostdeutschland, wo ihn die volle Breitseite der sächisch-provinziellen Hässlichkeit traf.

Aber statt sich mit Sozialdemokraten in eine Menschenkette zu stellen, oder brennende Mülltonnen im Stadtgebiet zu verteilen (er hätte allen Grund gehabt), wählte er die Waffe des Humors. Und zog mich glücklicherweise mit rein. Ich trat der Apfelfront bei, einer Gruppe von Menschen, die zwischen allen Stühlen stand und dabei Grimassen schnitt.

Aus den langen Jahren meines Engagements für diese kleine Bewegung von Andersartigen lässt sich ein Punkt unweigerlich festhalten: Humor und Satire sind Selbstermächtigung. Wer den Witz auf seiner Seite hat, muss sich nicht mehr ängstigen. Um es blumig auszudrücken: Nichts fürchtet die Angst mehr als das Lachen.

Natürlich ist nicht jedes Lachen ein emanzipatorisches. Die Stammtischler, die einen dreckigen Judenwitz machen und sich die Bäuche halten. Comedians, die Vorurteile in Witzform packen und das Publikum lediglich in der eigenen, dummen Meinung bestätigen. AfD-Mitglieder oder Boris Palmer, die widerliche Aussagen als „Satire“ verkaufen wollen. All diese Menschen mögen sich den Humor zu eigen machen, doch wir sollten ihn auf unsere Seite holen, sonst kapern ihn die Bösen und Beschränkten.

Oder wie Kästner dereinst schrub: „Ja, die Bösen und Beschränkten / sind die Meisten und die Stärkern. / Aber spiel nicht den Gekränkten. / Bleib am Leben, sie zu ärgern!“

Ärgert hauptberuflich heiter weiter,
Ihr MP in spe a. D.
Tom Rodig

„Rodig reflektiert: Wege aus dem Elend“ erschien erstmals am 28. Januar 2022 in der aktuellen Printausgabe der Leipziger Zeitung (LZ). Unsere Nummer 98 der LZ finden Sie neben Großmärkten und Presseshops unter anderem bei diesen Szenehändlern.

Hinweis der Redaktion in eigener Sache

Seit der „Coronakrise“ haben wir unser Archiv für alle Leser geöffnet. Es gibt also seither auch für Nichtabonnenten alle Artikel der letzten Jahre auf L-IZ.de zu entdecken. Über die tagesaktuellen Berichte hinaus ganz ohne Paywall.

Unterstützen Sie lokalen/regionalen Journalismus und so unsere tägliche Arbeit vor Ort in Leipzig. Mit dem Abschluss eines Freikäufer-Abonnements (zur Abonnentenseite) sichern Sie den täglichen, frei verfügbaren Zugang zu wichtigen Informationen in Leipzig und unsere Arbeit für Sie.

Vielen Dank dafür.

Empfohlen auf LZ

So können Sie die Berichterstattung der Leipziger Zeitung unterstützen:

Keine Kommentare bisher

Schreiben Sie einen Kommentar