Wie der Übertitel dieser Kolumne bereits verrät, bin ich hier, um zu reflektieren – sie, mich, Leipzig, das Universum und den ganzen Rest. Diese allmonatlichen Reflexionen darf und muss ich durch meine eigene Brille vornehmen (-2,75 rechts, - 6,0 links). Dass meine Sehbehinderung den Begriff „funktional einäugig“ zulässt, hindert mich nicht daran, mit blindem linken Auge zu richten und zu berichten. Kommen Sie also bitte mit, wir hangeln uns flugs durch das Jahr 2021, so wie ich es sah.
Von Wellen und Stürmen
Während bei Wellen mittlerweile alle an dieses Scheißvirus denken, möchte ich noch einmal erinnern: Es ist immer noch Klima. Besonders gern denke ich da an den Wirbelsturm oder wie er westlich des Atlantiks genannt wird, den Tornado in Tschechien, der im Juni ‘21 durch das Nachbarland brauste. Denn jeder Sturm fegt was fort, und in diesem Fall die Sorge, Mitteleuropa bliebe von Katastrophen der klimatischen Natur derart verschont, dass niemand auch nur irgendetwas unternehmen muss. Nichts unternehmen, das zählt in Deutschland mittlerweile zu den Sekundärtugenden.
Meine kurze Recherche zu der nur einen Monat später abgelaufenen Hochwasserkatastrophe in NRW und Rheinland-Pfalz ergeben einen Spitzentreffer zum entsprechenden Untersuchungsausschuss: „Opposition wittert Hinhaltetaktik bei Flutaufarbeitung“. Wir erinnern uns, im Vorwarn-Vorfeld der Flut wurde vor allem eins getan: nichts. Trotz lang bekannter Sturmlage, verblieben die Behörden lieber in Untätigkeit. Nur einer tat etwas, in einem Moment, in dem er am besten wirklich gar nichts gemacht hätte. Arminion Laschet lacht sich live im Fernsehen einen ab. Auch ein Weg in die Versenkung.
Wo es tatsächlich eine Welle hätte brauchen können, war im Suezkanal. Das riesengroße Containerschiff „Ever Given“ blockierte fünf Tage lang die Durchfahrt, weil ein stürmischer Wind vorbeigeflogen war. Ein Flügelschlag des Suezschmetterlings kann am anderen Ende der Welt die Containerhäfen volllaufen lassen. So lautet das passende Sprichwort der Chaostheorie. Fleißige Baggerleut gruben das Schiff wieder frei und gaben das Vertrauen in reibungslose Marktabläufe wieder zurück. A
m anderen Ende der Warenkreise bleibt das Vertrauen allerdings auf weiterhin niedrigem Niveau. Die Maskenaffäre der damals noch regierenden CDU stellt sich als Anhäufung von schlimmen Einzelfällen und mustergültige Korruption dar. Wo viel Geld, da viel Unehr’. Und nirgends korrumpiert es sich so ausgezeichnet wie dort, wo man gleich die passenden Gesetze dazu macht. Dass ab und an ein Hinterbänkler unter die juristischen Räder gerät, möge Sie, liebe Leserschaft, nicht weiter beunruhigen. Es läuft weiterhin wie geschmiert, bitte machen Sie sich bloß keine Sorgen!
Sorglos geht es auch wieder auf der anderen Seite des Atlantiks zu, denn der Fernsehkoch Dr. Trump wurde abgewählt, jedoch nicht ohne von seiner Anhängerschaft und anderen Wahnsinnigen stürmisch im Capitol verabschiedet zu werden. Neupräsident Biden glättet die Wogen und nimmt gleichzeitig den deutschen Medien einen willkommenen Anlass, um in Sachen Moralität die eigene Nation glänzen zu lassen. Hatte man doch mit Donald Trump eine abstruse Politfigur im Repertoire, über das sich alle von links bis mitte-rechts einig werden konnten. Kritik am „dummen Ami“ – ein deutscher Kassenschlager.
Die Großwetterlage hat sich von exzessiven Heiß-Kalt-Wechseln in eine graue Soße verwandelt, voller halbgarer Kompromisse und Schweinereien, die zwar immer noch passieren, aber wenigstens nicht lauthals auf Twitter hinausgebrüllt werden. Dass die schlauen Deutschen diese Form der Regierung in eine Person gegossen seit 16 Jahren erleben durften, mag das Verdienst von Dr. Merkel gewesen sein, deren Abschied von der Macht nun vollzogen ist. Kanzler Schloz hat sich aufgemacht, dieses Land weiterhin friedlich, still und leise zurück in den Schlaf zu regieren.
Krawallbruder Christian von der FDP, der Lindnerwurm unter den Marktradikalen, steht bereit, neue Liberalenskandale zu fabrizieren und die Grünen werden es bestimmt auch hinbekommen, irgendein Hartz-IV Unheil oder Schlimmeres anzurichten. Oder wie der Volksmund sagt: Stille Wasser sind mies.
Laues Lüftchen
Um sich dauerhaft in die kuschlig-wohlige Daunendecke der Herrschaft zu hüllen, muss ab und an gelüftet werden. Dann stehen die Vertreterinnen der Kehrwoche am Fenster und schütteln kräftig-polternd ihre Wäsche. Jene mit den größten marktschreierischen Talenten kommentieren ihren Putzplan am lautesten. Es wird durchs Land geruckt und der große Wandel an die Wand gemalt. Nie hätte es mehr zu tun gegeben, das Klima müsse man retten (vor wem eigentlich genau, das wäre eine beantwortenswerte Frage).
Eine Hülse nach der anderen wird verschossen, die Sturmgeschütze der Demokratie feuern aus allen Rohren. Im Frühjahr Kandidatenfragen, im Sommer in den Biergarten, im Herbst an die Urne. Und so hat alles wieder seine demokratische Verkehrsordnung, die Rushhour ist vorüber und die Lichtsignalanlagen funktionieren. Hunderttausend Tonnen Werbematerial später freut sich die Recyclingindustrie.
Während Baerback, Lindner, Schloz und alle ihre Handlangenden in den Verhandlungen saßen, säuselte leise „Wind of Change“ aus dem Radio. Nichts beruhigt die Massen mehr, als eine in Zukunftsnostalgie badende Regierungstruppe, ein bisschen hier, ein bisschen da, aber bitte immer mit „Vernunft“ und „Augenmaß“. Was kann man auch schon groß vergurken?
Für Hoteliersteuererleichterungen ist die FDP unter Lindner nicht blöd genug, für neue deutsche Bombennächte über Belgrad sind die Grünen zu clever. Es müssen sich also andere Orte des Versagens auftun, und zwar keine lauten, krachenden Explosionen dürfen hörbar sein, eher ein seichtes leises Versagen durch Untätigkeit (so wie im Rheinland, wir hatten es bereits oben). Denn niemand braucht Krach, wenn es auch heimlich, still und leise zugehen kann.
Ihr Kolumnist vertraut den Mächtigen insoweit, als sie aus den vielen Skandalen der Bundesrepublik gelernt haben, wie es auch ohne Knall und Krach geht. Das mag sehr schade für die vierte Gewalt sein, aber die hat zum Glück mittlerweile gelernt, wie man auch sich selber zur Nachricht macht. Herzlichen Glückwunsch an dieser Stelle an Julian Reichelt, den Retter des abendländischen Boulevards.
Windsaat und Sturmernte
Während ich hier den vermutlich ersten Jahresrückblick der Leipziger Zeitung abtippe, braut sich doch noch ein Jahresendunwetter zusammen, das eine Erwähnung schon beinahe unnötig macht. Sachsen, zu dessen Herrschaftsbereich wir in Leipzig leider noch gehören, brilliert in ungekannter Weise im Aerosolstaffellauf. Rekordinzidenzen, überfüllte Betten, Impfqoutenversager – ob schon wieder Zeit für einen sächsischen Winterschlaf ist? Ich fürchte schon.
Dieses Jahr 2021, bestehend aus weiteren Coronawellen und einem schnöden Sturm auf den Bundestag, erscheint als Kopie des, wenigstens noch ungewöhnlichen, Jahres 2020. Da wurde immerhin noch ein echter Sturm auf den Bundestag vergeigt. Wenn ich nun diesen Verlauf betrachte, muss ich mich fragen: Wird 2022 eine noch schlechtere Staffel der Pandemie-Serie, deren Komparsinnen wir darstellen? Oder hab ich mich verguckt?
Lässt das Brilleputzen diesen Monat sein,
Ihr MP in spe a.D.
Tom Rodig
„Rodig reflektiert: War was? 2021 in Worten“ erschien erstmals am 17. Dezember 2021 in der aktuellen Printausgabe der Leipziger Zeitung (LZ). Unsere Nummer 97 der LZ finden Sie neben Großmärkten und Presseshops unter anderem bei diesen Szenehändlern.
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