Karin hat geschrieben, kurz nach der Wahl, aber regelrecht fröhlich. „Hallo Ilse, komm doch mal wieder in die schöne Oberlausitz, auf der Rehwiese kann man noch immer fein rodeln, im Sommer gibt’s Himbeeren hinterm Haus und wir könnten noch mal vom Nonnenfelsen ins weite Land schauen. Und vielleicht ein paar Steine ins Tal schmeißen, wie früher. Sag Bescheid, ich richte gern das Gästezimmer für Dich her. Deine Karin. PS: Karl ist letzten Sommer gestorben, Du kannst also gern Deinen Mann mitbringen, wenn Du noch einen hast. Ohne wär schöner.“
Ich gebe zu, ich musste mich erst mal setzen. Zwei Eierliköre später war alles wieder da. Die schöne Landschaft, Schlachtfest auf dem Hof und zerdeppertes Porzellan bei Janas Hochzeit, Skifahren im Wald, die steinerne Kirche in der Mitte des Ortes und die geschwungenen Straßen des beginnenden Zittauer Gebirges. Und Karin: dick, an der Konsumkasse sitzend, immer mindestens ein paar Locken zu viel ins dunkle Kurz-Haar onduliert und ständig in Hauslatschen unterwegs oder Gummistiefel.
Wie lange haben wir nichts voneinander gehört, 20 Jahre sicher, wir Sachsen sind stur. Was der Auslöser für den Streit war, ist mir entfallen, aber es war so doll, dass wir nicht mehr miteinander geredet haben, 20 Jahre lang, als Schwestern. Irgendwas hat nicht mehr gepasst seither, sie wurde irgendwie unzufrieden nach der „Kehre“, wie wir sagen. Streitsüchtig, fast immer im und am Haus am Machen, Jahre wechselnder Jobs, nichts Richtiges mehr, nachdem sie den Konsum das letzte Mal abgeschlossen hatte.
„Neenee, das wär nüschd für müsch“, hatte sie beim zweiten und letzten Besuch in Leipzig gesagt. Großstadt, beim Griechen essen, da „wo alles so seltsam stinkt“ (Karin) und im Theater ist sie eingenickt.
„Stadtluft macht müde“, murmelte sie beim Erklimmen der Bahnhofstreppen, dann noch ein Winken aus dem Zug und ein donnerndes „Garl, läg den Goffer uff de Obloche“-Gebrüll aus dem halboffenen Zugabteilfenster.
Und dann war sie weg. Und blieb weg, in ihrem Leben da in Jonsdorf.
Ich hätte die Karte nicht umdrehen dürfen. Bernd Höcke grinst mich an, AfD-Logo im rechten oberen Eck, der Stil wie eine alte Hitlerpostkarte, blau, statt sepiabraun. Vielleicht fahre ich doch zu Karin. Einen Bahnhof haben sie ja noch. Und dann reden wir. Über uns, die DDR, die vielen Jahre danach und erst am Ende vielleicht über Politik.
Dann schaffen wir dieses Mal mehr als zehn Minuten, bevor sie zum Holzhacken rausrennt. Das Hotelzimmer in Oybin ist jedenfalls schon gebucht.
„Sachsenliebe“ erschien erstmals am 1. Oktober 2021 in der aktuellen Printausgabe der Leipziger Zeitung (LZ). Unsere Nummer 95 der LZ finden Sie neben Großmärkten und Presseshops unter anderem bei diesen Szenehändlern.
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