Eine Superwahl! Eine Jahrhundertwahl! Eine Klimawahl! Und eine Schicksalswahl war es auch! Zudem „die wichtigste Wahl jemals“ (gängiger Superlativ) und überhaupt kam es diesmal ganz enorm darauf an. Und bloß nicht verwählen, das hätte erneut Stillstand, Stagnation oder wahlweise den allerendgültigsten Niedergang bedeutet. Doch heute, am Tag nach der Wahl, an dem ich in meiner Kemenate hocke und übers Wählen reflektiere, heute steht die Welt noch, sie fühlt sich sogar ziemlich genauso an wie gestern. Nur etwas verkaterter.
Falsch, Rodig! mag die geneigte Leserin ausrufen, wurde das Land doch vom Ruck durchzuckt, die Wände wackelten, das gute Kaffeeservice klimperte noch im hinterletzten Stübchen alter Leute, die vom Wählen und Gewähltwerden zwar nichts mehr hören können, aber als Mitinsassen der Bundesrepublik doch wenigstens am Wahlsonntag um sechs Uhr die ARD einschalten.
Wahlen sind schließlich Freudenfeste der Demokratie, die Option schlechthin, alle paar Jahre zur Abwechslung etwas mitzubestimmen und feste abzukreuzen bis die Urne glüht. An dieser Stelle könnte ihr Kolumnist noch seitenweise miesepetern, und dem geneigten Lesenden weiter Illusionen über die Zweckmäßigkeit des Wählens unterstellen. Doch ich unterlasse das, die Redaktion hat mich gebeten, mit der Publikumsbeleidigung sparsamer zu sein. Ihr Glück!
Eines darf ich aber sagen: Wahlen sind durchaus Feste, es kömmt eben darauf an, wie man sie feiert. Ich für meinen Teil ließ den Sonntag nach einem ausgedehnten Brönsch mit anschließendem Nickerchen auf der Couch der Kanzlerinnenkandidatin Subat (Die PARTEI, 2,6 % im Wahlkreis Leipzig I) langsam angehen, um dann traditionell das „Wählen mit Sekt“ (Rotkäppchen, 11 % in der grünen Flasche) zu begehen. Der Anblick der sächsischen Wahlzettel lässt sich kaum anders aushalten, hat es doch die AfD in die erste Zeile geschafft, denn 2017 hatte sie bereits die meisten Zweitstimmen in Sachsen geholt.
Blau gegen Blau mache ich mein Kreuz bei der Kandidatin Subat und den fünf Doktors der PARTEI-Landesliste: Dr. Woschech, Dr. Reinecke, Dr. Höfler, Dr. Ronny & Dr. Morris. Mit Expertise aus der Krise, Spitzenpersonal zur Bundestagswahl bietet dem Unverstand mit Hirn die Stirn. Expertinnen an die Regierung – eine Idee, die wir, zugegeben, den Grünen geklaut haben. Es heißt ja, Plagiate in der Wissenschaft gehören mittlerweile politisch zum guten Ton.
Doch wir plagiieren nicht nur die Grünen, sondern auch uns selbst und das nennt man dann landläufig Tradition. Zu einer dieser sächsischen PARTEI-Traditionen gehört es, am Wahlabend die anderen Parteien in der Landeshauptstadt auf ihren Wahlpartys heimzusuchen. Als sächsischer MP in spe a.D. kann und darf ich mir diese gruppenbildende Maßnahme natürlich nicht entgehen lassen. Denn nichts bildet die eigene Gruppe besser als die gemeinsame Zersetzung einer anderen Gruppe!
Mit Erschrecken mussten wir allerdings feststellen, dass die Wahlpartys dieses Mal nicht innenstadtnah, sondern weit verstreut über das Elend namens Dresden verteilt waren. Eine coronabedingte Maßnahme? Oder doch aus Angst vor der marodierenden PARTEI-Horde, mit gierigem Grinsen in den Augen immer auf der Suche nach herrenlosen Bieren, ausladenden Büffets, Topfpflanzen und anderem Mobiliar, das ohne jedes schlechte Gewissen den Großparteien expropriiert wird?
Haben die Plünderungen durch PARTEI-Genossnä in den letzten Jahren (Danke SPD, für das ganze „Freibier“!) sich herumgesprochen und dazu geführt, die Örtlichkeiten an den Stadtrand zu verlegen? Ich denke, doch, das wird’s gewesen sein. Lediglich alles links der SPD hatte Mut zum Zentrum bewiesen, aber außer der Piratenpartei auch Geiz, denn Freibier im eigentlichen Sinne gab es sonst nirgends.
Darum gelang es nicht einmal qua kostenloser Alkoholika, mir die Wahl spannend zu trinken. Denn auch ein Zweites darf ich sagen: Selten war eine Wahl so langweilig. Jaja, wenn die Zeiten unsicher sind, gehen die Leute in ihren Wahlentscheidungen auf „Nummer sicher“, wählen also die Cash-Demokratische Union, AfDler (die in ihrer beständigen Doofheit für viele zum letzten Garanten deutscher Verlässlichkeit geworden ist), die „Wir müssen dann mal sehen, es kommt auf Inhalte an, aber ja, der Forst kann weg“-Grünen, den Brechmittel-Glatzkopf von der alten Großtante SPD oder noch schlimmer: die Spaßpartei FDP, die Partei für jene, die das Lachen verlernt haben.
Der eine kleine Lichtblick des Tages ist der Sturzflug der CDU, doch sogar der holt keine Katze hinterm Ofen vor, waren doch dank Arminion Laschets weithin ersichtlicher Inkompetenz die Ergebnisse weniger eine Überraschung als ein Mindestmaß an hochverdientem Absturz.
Mit hoher Wahrscheinlichkeit haben auch SIE eine der großen Parteien gewählt. Und was hat es Ihnen gebracht? Die SPD hüpft mit den Grünen in die Koalitionskiste und arbeitet daran, in den nächsten vier Jahren den letzten großen Coup von vor 20 Jahren (Bomben schmeißen, Hartz IV einführen) noch zu toppen.
Zuversicht ist angesagt, denn wie die aktuelle Nachrichtenlage aussieht, wird die FDP tatkräftig zur Seite stehen und einen bunten Strauß an neoliberalen Schweinereien aus dem Hut zaubern. Ich will ja ungern die Schuld auf SIE abschieben, aber irgendwer war wohl Sonntag wählen. Da fällt mir nur noch Rio Reiser ein: „Für mich heißt das Wort zum Sonntag: ‚Scheiße‘; und das Wort zum Montag: ‚Mach mal blau‘!“
Mit dem Mut derjenigen, die Ihre Zeit noch kommen sehen, fahre ich also am Montag mit einem viertel Dutzend PARTEI-Genossen dahin, wo es noch Neues zu entdecken und Stimmen zu holen gibt: Nünchritz. Das beschauliche Schtetl im Herzen des sächsischen Freistaats hat nichts zu bieten und gleichzeitig ein ganzes Universum. Urkundlich ersterwähnt im Jahre 1312, lebt diese Stadt vor allem von einem Chemiewerk, das so groß wie Nünchritz selbst ist. Es vermag 6.000 Nünchritzer Seelen zu ernähren, und entsprechend viel ist auch los – beim Edeka.
Wir entrollen ein Banner, auf dem in sachlicher Klarheit „Pro Nünchritz“ geschrieben steht. Damit gelingt es, die Aufmerksamkeit zu erheischen und die ersten Unterschriften zu sammeln. Denn wir haben ein Klemmbrett mit Unterschriftenliste dabei, die ebenso bestechend schlicht „Damit es bleibt, wie es ist: Pro Nünchritz!“ einfordert. Wir sind überzeugt: Diese Forderung ist geeignet, alle Menschen aus Nünchritz da abzuholen, wo sie stehen. Nämlich vor dem Edeka.
Mehrere Stunden ziehen wir durch den Ort, dessen Durchquerung in Luftlinie vermutlich nur zehn Minuten dauern würde. Wir halten unser Pro-Nünchritz-Banner den vorbeifahrenden Autos entgegen, posieren vor einer sowjetischen Kriegsgräberstätte und einem ebenso bannerfreundlichen Einfamilienhaus mit „Gegen den Corona-Wahnsinn“-Transparent – nirgends werden wir befragt, warum, wozu und warum eigentlich nicht. Wir scheinen die ideale politische Forderung gefunden zu haben. Für die kommenden Wahlkämpfe wird sich Die PARTEI das hinter die Ohren schreiben müssen!
Viele sind ja der Meinung, dass die alte PARTEI-Forderung „Inhalte überwinden“ schon längst überwunden ist oder mindestens gehört. Das glaube ich nicht. Im Gegenteil, umso elender dieser Planet sich ausnimmt, umso eher sollten wir uns auf etwas Verbindendes besinnen. Zum Beispiel Nünchritz. Oder Borsdorf. Oder Oschatz. Es gibt vierhunderteinundzwanzig Gemeinden in Sachsen – und eine Welt zu gewinnen!
Auf der Rückfahrt sitzt ein paar Meter weiter ein Mann mit sächsischem Migrationshintergrund und plappert lauthals eine Wahleinschätzung in sein Telefon. Besonders freut ihn „Dass de Linkä sou abgeschmiert is“ und erklärt, dass die Direktmandate in Berlin und ganz besonders Leipzig den Einzug in den Bundestag gerettet hätten. „Soll’nse doch glei Leipzsch un Berlin zusammenlegen“ und ich denke: stimmt. Wenn es nicht zusammen geht, muss man eben auseinandergehen. Also unterschreiben auch Sie bitte für „Leipzig raus aus Sachsen“ – nur zur Sicherheit.
Stets im Einsatz für Frieden, Freiheit, Glück
Ihr MP in spe a. D.
Tom Rodig
„Rodig reflektiert: Vielleicht doch lieber Nünchritz“ erschien erstmals am 1. Oktober 2021 in der aktuellen Printausgabe der LEIPZIGER ZEITUNG. Unsere Nummer 95 der LZ finden Sie neben Großmärkten und Presseshops unter anderem bei diesen Szenehändlern.
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