Am Anfang war das Wort. Der Schreiber, der hinter der Maschine sitzt, hackt es in die Tasten, wenn er seinen Wortschatz nur ordentlich geschüttelt hat und eines herausgepurzelt ist, so ein Wort. Wo eins ist, da sind oft noch viele andere.

Ist die Tür erst mal geöffnet, fallen sie heraus wie leere Bierdosen aus dem Tourwagen einer Provinzpunkband. Scheppern, poltern, knarzen, zutschen, eiern. Doch wenn nur Geschrabel bei rumkommt, warum nicht gleich lassen? Rest ist gleich Schweigen, sie wissen schon. Übergeben wir doch lieber Dr. Rudolph Schleebach das Wort.„Wie geht es uns denn heute? Ganz gut so weit, ja? Schön, dann können wir Sie ja nun wieder entlassen. Ja, doch doch, Sie können wieder raus und „andere Menschen“ treffen. Ihre Immunisierung wird demnächst erfolgreich durchgelaufen sein, Sie dürfen sich jetzt wieder mit den üblichen Bakteriokokken und Vironomen anstecken, Pest, Cholera, diese bunte Soße, die man als „Krankheiten“ bezeichnet.

Sie dürfen raus, wann Sie wollen, dürfen ablecken, wen Sie möchten – natürlich nur, wenn Sie die Einwilligung der betreffenden Person erhalten haben! – und Ihnen ist sogar gestattet, an einer Massenversammlung teilzunehmen, zum Beispiel einer Skatrunde.

Ach was, Sie haben Bedenken? Ob das alles so einfach ist, und wirklich gefahrlos? Nun ja, denken Sie an das allgemeine „Lebensrisiko“, wie es die Schlauen unter uns nennen. Jeden Tag fällt ein Ziegel vom Dach und auch wenn Sie noch zur Seite zu hüpfen in der Lage sind, springt Ihnen dennoch der Splitter eines Steinchens in die Pupille und Sie sind ein Einauge.

Bleibt Ihnen doch noch das große Reich der Blinden, die suchen immer Monarchen. Der berühmte Samurai Zatoishi war schließlich auch blind, aber ein sehr gutes Gehör hatte er. Sie sehen also, man muss nehmen was kommt, und aus dem kleinsten Haufen Altpapier lässt sich noch eine zünftige Suppe kochen. Das ist letztlich immer noch besser als Stalingrad.

Wenn Ihnen jetzt trotzdem Zweifel kommen, und diesen Keim haben Menschen immerdar in sich liegen, dann kann ich Sie beruhigen. Sie müssen schließlich auch mal an die anderen denken. An „uns“, als Gesellschaft. Umsatz, Konsum, all das ist schlimm eingerostet im letzten Jahrzehnt der Pandemie, da darf man sich nicht verstecken und aus Furcht vor dem Leben es den anderen zur Hölle machen. Denn Sie sind ein Rädchen im Uhrwerk und jede Schweizer Uhrenmanufaktur wird Ihnen das bestätigen, auf das kleinste Rädchen kommt es an, sonst wäre es ja nicht verbaut.

Eine Schweizer Armbanduhr können Sie sich nicht leisten, sagen Sie? Nun ja, darum sollen Sie ja auch fleißig arbeiten, dann wäre das bestimmt irgendwann für Sie im Bereich des Möglichen. Bis dahin ist es Ihre Pflicht, dem Laden beim Laufen tatkräftig mitzuhelfen. Und lassen Sie sich bloß nicht einreden, Sie würden hier sinnlose „Bullshitjobs“ machen. Der Bolschewist, der diesen Begriff erfunden hat, möge sich beschämt in die Ecke stellen und lange darüber nachdenken, warum er den Leuten das Dasein so verhageln muss.

Denken Sie einfach an die schönen Dinge. Mallorca, Teneriffa, Ostsee, Baggersee, oder was auch immer Sie Mensch ohne anständiges Hausarztgehalt so in Ihren Ferien machen. Ein Platz in enggepackten Reisebussen ist doch wieder buchbar, Polster & Pohl fährt Sie bestimmt nach Bukarest für einen schmalen Taler. Goldstrand, Sie kennen das doch bestimmt. Nun, unsereins fährt dann doch lieber an die Goldküste, Zürichsee, Sie kennen das bestimmt nicht.

Schon, es ist teuer, also für Ihre Begriffe, aber seien Sie versichert, auch für uns ist es nicht gerade billig. Doch wissen Sie, seitdem ich hier im Impfzentrum mein Gehalt als Schönheitschirurg auf für unsere Gesellschaft so wertvolle Weise aufbessern kann, wird es dieses Jahr wieder an der Zeit sein, die schönen Dinge des Lebens zu genießen.

Die neue Leipziger Zeitung (LZ) Nr. 91, VÖ 28.05.2021
Die neue Leipziger Zeitung (LZ) Nr. 91, VÖ 28.05.2021

Ach, Sie haben Ihren Job verloren? Wegen der Krise? Lichttechniker also, na ja, das war ja schon vorher eine eher brotlose Kunst, oder? Mein Vater hat mir ja immer geraten, einen Beruf zu lernen, der krisenfest ist. Seine Mutter riet ihm bereits dasselbe, nachdem sie jahrelang Deutschland wieder aufgebaut hat, Sie wissen schon, wegen der letzten großen Krise.

Und wenn die Berichterstattung in der Stadt war, da musste sie sich in Reihe aufstellen und eine Trümmereimerkette bilden, damit die Leute dachten, es wäre immer so gewesen, dass deutsche Mütter das Land wieder aufgebaut haben. Aber das ist eine andere Geschichte.

Was Sie daraus lernen sollen, ist: Jedes Mütterchen hat ihr Scherflein zu schippen und was eine Mutter kann, das können auch Sie. Schauen Sie nicht so grimmig, der Vater hätte dafür bereits eine Schelle verteilt.

Sie haben doch allen Grund zu Freude! Es geht wieder los. Gut, manche müssen ein bisschen härter ran als andere, das ist klar. Doch wie mir noch jüngst der freundliche Kollege Panzergrenadier von der Bundeswehr, das Bataillon hilft hier aus, sagte: „Beim Blutspenden tun Sie etwas für sich und eine andere Person. Hier, im Impfzentrum, tun Sie etwas für sich und für Deutschland!“ Na sehen Sie. Was kann es Schöneres und Erhebenderes geben, als sich für sein Land eine Nadel in den Arm jagen zu lassen?

Wir haben doch nicht grundlos den Pharmaunternehmen die Milliarden in den, na Sie wissen schon, hineingeschoben, um uns jetzt wieder vom Ami oder Chinesen die Butter vom Brot nehmen zu lassen. Wir müssen da auch an unsere Zukunft denken. Und mit „uns“ meine ich unser schönes Deutschland und mit „wir“ meine ich Sie.

Ich bitte Sie, ungerecht verteilt nennen Sie das? Dass dem Inder die Mutationen um die Ohren fliegen, liegt ja wohl bitteschön nicht an uns. Der Trump, der ist zwar dumm, aber schlau war er schon, sich die ganze Impfproduktion einzukaufen. Sie müssen wissen, der europäische Kleinmut hat uns ja letztlich um die Monate zurückgeworfen, die uns jetzt fehlen. Wenn das alles mit mehr deutscher Gründlichkeit in Planung und Organisation abgelaufen wäre, dann wäre Europa jetzt schon längst keimfrei.

Aber Sie kennen das, mit dem Süden und dem Osten ist kein Staat zu machen. Nur der Orbán Viktor hatte Schneid und hat dem Russen den Sputnik abgekauft. Doch ich als Mediziner kann Ihnen sagen, dem Stoff ist nicht zu trauen. Massenproduktion, das kann der Sowjet. Aber von der Qualität wollen wir lieber nicht reden.

Seien Sie also froh, dass ihnen so ein prächtiger High-Tech-Impfstoff verabreicht wurde. Wir haben uns schließlich lange genug zusammengerissen. Und ich kann Ihnen sagen, auch ich und meine Frau, wir haben uns arg einschränken müssen. Sogar unser alljährliches Sommerfest am Heiligen See haben wir ausfallen lassen. Der Alexander war sehr traurig, hat wie immer über die Altparteien geschimpft und ist über die Corona-Diktatur hergezogen.

Zugegeben, er redet sich manches Mal arg in Rage, aber im Grunde hat er schon recht, es muss wirklich bald etwas passieren, sonst gehen wir vor die Hunde. Am Ende müssen wir doch noch auswandern, wenn das hier so weitergeht. Wir haben Verwandtschaft in Argentinien, die sind damals nach der großen Katastrophe da runter gezogen, machen in Landwirtschaft, haben einige schöne Fincas, und erst das Rindfleisch, deliziös. Da lässt es sich aushalten!

Sie sehen also, es gibt noch Gutes, Wahres und Schönes auf der Welt. Und so eine kleine Depression, die geht vorüber. Machen Sie mal wieder Sport, das wusste schon unser Turnvater und an seinem Wesen ist immerhin die Welt genesen. Denken Sie nur an diese neumodischen Pilateskurse, das ist schließlich dasselbe nur in anders. Ein paar anständige Kniebeugen und die Welt sieht gleich ganz anders aus. Morgen ist auch ein Tag und wer will schon Trübsal blasen, während da draußen die Sonne scheint.

Oh je, da haben wir uns aber jetzt ganz schön verplaudert. Mein Chronograph muss wohl wieder aufgezogen werden. Ich muss schließlich noch ein paar Nasenbeine verschlanken. Wir haben ja alle unser Säcklein zu tragen. Und Sie, suchen sich mal einen anständigen Job, irgendwas im Callcenter vielleicht, oder was ungelernte Leute eben so arbeiten. Jeder ist seines Glückes Schmied, wissen Sie. Es geht schließlich um uns alle. Ein schönes Leben noch!“

„Rodig reflektiert: Wir für uns“ erschien erstmals am 28. Mai 2021 in der aktuellen Printausgabe der LEIPZIGER ZEITUNG. Unsere Nummer 91 der LZ finden Sie neben Großmärkten und Presseshops unter anderem bei diesen Szenehändlern.

Hinweis der Redaktion in eigener Sache

Seit der „Coronakrise“ haben wir unser Archiv für alle Leser geöffnet. Es gibt also seither auch für Nichtabonnenten alle Artikel der letzten Jahre auf L-IZ.de zu entdecken. Über die tagesaktuellen Berichte hinaus ganz ohne Paywall.

Unterstützen Sie lokalen/regionalen Journalismus und so unsere tägliche Arbeit vor Ort in Leipzig. Mit dem Abschluss eines Freikäufer-Abonnements (zur Abonnentenseite) sichern Sie den täglichen, frei verfügbaren Zugang zu wichtigen Informationen in Leipzig und unsere Arbeit für Sie.

Vielen Dank dafür.

Empfohlen auf LZ

So können Sie die Berichterstattung der Leipziger Zeitung unterstützen:

Keine Kommentare bisher

Schreiben Sie einen Kommentar