LEIPZIGER ZEITUNG/Auszug Ausgabe 85, seit 20. November im HandelAllzu häufig ist diese Kolumne gespickt mit fiesen Bemerkungen, hanebüchenen Anwürfen und grundsolidem Klassenhass. Doch heute nicht, meine lieben Leserinnen! Bevor Sie angeödet weiterblättern, möchte ich mich erklären. Denn unerhörte Dinge ereignen sich in diesem Leipzig, das ich meinen Wohnort nenne. Am 07.11. – wie die Vorwahl von Stuttgart. Zufall? – vor nun knapp zwei Wochen, schwamm eine Welle durch die mythosbeladene Innenstadt. Sie haben sicher die Bilder im Interweb gesehen, sich davon erzählen lassen, oder: haben es Ihrem bescheidenen Kolumnisten gleichgetan und haben sich selbst ein Bild gemacht vor Ort.
Der Kaiser hätte es so gewollt
Als ich am Morgen der Großdemonstration „Für die Freiheit“ aus verkaterten Träumen erwachte, fand ich mich in meinem Bett zu einem ungeheuren Weltkriegssoldaten des deutschen Kaiserreichs verwandelt. Die Pickelhaube, die noch am Vorabend unter Mithilfe treuer PARTEI-Genossen aus alten LZ-Ausgaben pappmachét wurde, war über Nacht getrocknet und passte nun wie angegossen.
Offenbar hatte ich im schweren Ledermantel geschlafen, musste ich mir also nur noch das Eiserne Kreuz anpinnen und zu meinen Kameraden stoßen. Denn auch wir wollten uns die Gelegenheit nicht entgehen lassen, als kaisertreuer Flügel auf dem Volksfest (oder wie das OVG Bautzen sagen würde: „die Demonstration“) unsere Ansichten vorzutragen. Wenn diesen Freiheits- und Friedensbewegten etwas wichtig ist, dann wohl bitteschön die Vielfalt der freien Meinung!
Aus Vorsicht, dass vielleicht vereinzelt doch Menschen bei dieser unüberschaubar großen Versammlung dabei sein könnten, die unserer Meinungsäußerung nicht wohlgesonnen sein würden, hatten wir eine Tarnung konzipiert. Diese würde uns ermöglichen, einen erhöht gelegenen, gut einsichtigen Platz zu ergattern und erst vor Ort unser Banner zu entrollen. In altdeutscher Fraktur stand darauf geschrieben: „Zwangsimpfung jetzt, der Kaiser hätte es so gewollt!“ – was sogar die Wahrheit ist, denn 1874 wurde im Deutschen Reich das erste Impfgesetz verabschiedet, inklusive der Option auf Zwangsimpfung.
Da diese Ansicht uns dann doch recht kontrovers erschien, hielten wir zunächst billige Pappschilder mit der Aufschrift „Hysterie!“ in der Hand. Die Tarnung funktionierte ausgezeichnet. Innerhalb von zehn Minuten Gang durch die Menge wurden wir mindestens 50 Mal fotografiert. Ein Mann mit eigener Pickelhaube, die sogar Alufolienabschirmung besaß, hob lachend beide Daumen, als wir ihn passierten.
Am Rande der östlichen Seitenmauer des Opernvorplatzes standen nun drei sonnenbeschienene Weltkriegssoldaten mit an Dachlatten gepappten „Hysterie“-Schildern und aufgesetzten Gasmasken. Die ABC-Schutzfilter schienen uns hygienisch angebracht und passten trotzdem bestens ins Bild. Ein uns zugewandter älterer Herr schwenkte unentwegt und dabei begeistert lachend seine Deutschland-Fahne.
Wenn es i h m gefiel, wer wollte u n s dann etwas anhaben? Es war die richtige Zeit gekommen, das Banner zu enthüllen. Die drei Meter breite Plane hatte bis dahin unter einem der Ledermäntel gesteckt und wurde nun entfaltet. Wir schraubten das Banner an die Latten, hielten es den Zehntausenden hin und warteten ab.
Die Umstehenden lächelten finster. Während die Menge wohl zunächst eingeschüchtert von den Pickelhauben-Ledermantelmännern war, kam eine „Querdenken“-Ordnerin auf den Trichter, dem monarchistischen Treiben Einhalt zu gebieten. Sie zuppelte mit Vehemenz an meiner unteren Bannerecke, bekam sie nicht zu fassen, gab auf und ging weg.
Es gärte so langsam unter den Leuten. Mittlerweile hatten einige die Schriftzeichen kognitiv verarbeitet und machten sich ihren Reim drauf. Der ältere Herr schwenkte weiter und mit noch begeisterterem Lächeln seine Fahne. Die Vertreter vom „Querdenken“-Kommunikationsteam schauten betreten in irgendeine andere Richtung. Handgreiflich wurde dann erst ein Windjackenträger, der – wie ‘89 die Stasi! – aus der Menge heranpreschte, um uns das Banner zu entreißen.
Wir hielten Stand, ließen uns das Banner nicht entreißen und gingen – im Felde ungeschlagen! – ab. Hier war man uns offenbar gar nicht (mehr) wohlgesonnen. Wir peilten auf die nächstgelegene Polizeikette, denn bei den gepanzerten Einsatzkräften, jene die Recht und Gesetz hüten und ins Werk setzen, da ist man am Ende noch am sichersten aufgehoben. Bevor Sie nun empört die Zeitung in den Ofen stecken, will ich mich erklären.
Daumen hoch
Unerhört waren an diesem Tage nicht nur die Stoßgebete vieler Menschen aus Leipzig, die um Regen, Hagel oder bestenfalls eine biblische Springflut der Pleiße bitteten, um das Happening zu verhindern, das Volksfest der Eso-Mütter, Reichsbürger und wissenschaftlich beseelten Hobbyvirologen mit dem plattesten Begriff von Freiheit, seit es Marius Müller-Westernhagen gibt. Ganz besonders haben sich an diesem Tage die Freundinnen und Helfer von der Polizei durch eine Herzlichkeit hervorgetan, wie ich sie noch nicht erlebt habe.
Da zeigten sich ungeahnte Fähigkeiten, die den Prügelrobotern ganz offenbar ab Werk auf die Platine gelötet sind, aber bis dato nur im Verborgenen aktiviert wurden. Wie im Märchen Rumpelstilzchen muss wohl das vielfache Rufen des Wortes „Freiheit“ bei den Häschern des Staates einen Schalter umgelegt haben.
Vielleicht war es auch die geballte Macht schwäbischer Heilpraktikerinnen, die mit ihren Friedensmantras das harte Herz der Polizei erweicht hatten. Über die Ursachen lässt sich nur spekulieren, aber das Ergebnis war unübersehbar: ein friedlich agierender „Freund und Helfer“.
War noch früher die Polizei als seelenlose Prügelgarde in Erscheinung getreten, bis an die Oberlippe mit Pfefferkanonen, Räumpanzern und Wasserspritzen bewaffnet, kam an diesem denkwürdigen Samstag die Liebe zum Vorschein. Und ich als MP in spe begrüße das ausdrücklich! Dass gerade die sächsische Polizei nun diesen fundamental neuen Weg einschlägt, das wärmt mir das Herze.
Ihr müßt sie lieb und nett behandeln,
erschreckt sie nicht – sie sind so zart!
Ihr müßt mit Palmen sie umwandeln,
getreulich ihrer Eigenart!
Pfeift euerm Hunde, wenn er kläfft –:
Küßt die Polizisten, wo ihr sie trefft!
Was mich besonders freut, ist der Ausblick auf die Demos, die in einer strahlenden Zukunft stattfinden werden. Wenn die Polizei nicht mehr knüppelt, sondern einfach zurücklächelt und den Daumen hebt. Wenn Zecken nicht die Beamtinnen, sondern in die eigenen Hände klatschen und verzückt „Hurra, die Polizei ist da!“ grölen. Wenn die Tanks der Wasserwerfer, statt auf Demonstrierende, auf die ausgetrockneten Böden dieser Stadt entleert werden. Wenn Pfefferspray nur noch in die Suppe kommt und nicht in die Augen. Und wir werden sagen: Wieder ging eine Friedliche Revolution von Leipzig aus. Wie ‘89.
Allen Polizeikräften ein Küsschen links, Küsschen rechts auf die Wange gebend,
Ihr MP in spe
Tom Rodig
Das Video der PARTEI zur Banneraktion am 7.11.2020
Video: Die PARTEI Leipzig
Leipziger Zeitung Nr. 85: Leben unter Corona-Bedingungen und die sehr philosophische Frage der Freiheit
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