Seit gut einem Jahr fährt man in Leipzig mit der Metro. Na ja, es sind vier Stationen unter Tage. "Hamsterbacke" wurde der Triebkopf tituliert, der samt dem Fahrzeug mit dem mutmaßlichen Namen "Talent 2" neu geschaffen wurde. Sonst hat diese Mitfahrgelegenheit noch keinen Spitznamen. Warum eigentlich nicht? Da waren die Leipziger schon mal schneller! Bei der "Bemmen-Büchse", auch "Blech-Büchse" genannt, oder den "Silberfischen" der "Notenspur"...
Die Bahn fährt. Der Laden läuft wie geschmiert. Die Bahn an sich wollte mit dem Geschäft zunächst nichts zu tun haben, bewarb sich dann aber doch, und gewann! Und soll nun schon den Bestellern mit höheren Rechnungen gedroht haben.
Jedenfalls gucken sich Reiselustige und Bahnfreunde die Augen aus, stehen einander im Weg, rempeln andere an. Kinderwagen kontra Kofferroller und Fahrräder. Rollstuhlfahrer brauchen keinen Begleiter mehr, sondern drücken Knöpfe und fahren los!
Alter Traum
So alt wie die Pläne vom Leipziger Hauptbahnhof ist die Idee, auf seinen Kuppeln mit Flugzeugen zu landen und zu starten. Und auf separatem Wege zum Bayerischen Bahnhof zu fahren. Verlockend war auch die Idee einer oberirdischen Bahn quer durchs Stadtzentrum. Auch Gondeln überm Schwanenteich konnte man sich vorstellen, wie hinauf zum Hexentanzplatz in Thale….
Schon 1988 ließ der academixer-Kabarettist Bernd-Lutz Lange in seiner Rolle als Lehrer einen Aufsatz schreiben und zitierte den beliebten Schüler Paschke. Der sah schon damals im Leipzig des Jahres 2002 in der Hauptbahnhof-Westhalle vor Blumen-Hanisch einen Tunnel-Zugang zur U-Bahn und einem unterirdischen Einkaufszentrum…. Eine Fernsehaufzeichnung des Programms ist erhalten und lässt großes Publikumsgelächter hören.
Kabinen oben oder Züge unten: Es gewann die Idee des Tunnels. Zu unterschiedlichen Zeiten fanden sich Bauplaner, Gelder und Baustopps. Aus dem ICE-Tunnel mit drei Röhren wurde eine abgespeckte Variante mit zwei Röhren. Immerhin passt der ICE durch, er hat es umleitungshalber schon probiert.
Wer braucht denn den Tunnel?
Wann man auch immer über den Tunnel redete, gab es jemandem der sagte “Den braucht doch keiner.” Und es war immer jemand in der Nähe, der das auch fand.
Licht brachte immer mal wieder das Baustellenmarketing ins Geschehen und feierte, was zu feiern war. Montage der Tunnelbohrmaschine. Ihre Taufe auf den Namen “Leonie”. Probe- und Losfahrten. Den Durchstich Richtung Hauptbahnhof. Da ging dann schon mal im Moment aller Momente das Licht aus und die versammelten Pressemenschen guckten in die Röhre, die finstere.
Zum ersten Tunnelgucken wurden Tickets ausgegeben, wozu sich frühzeitig Warteschlangen versammelten. Erste Fahrten gab es mit der Grubenbahn für Baumaterial und Beschäftigte, dann auch Eigenbau-Plattformwagen. Und die meisten gingen zu Fuß. Die Wege über die Gerüsttreppen hinunter und hinauf dauerten gefühlt länger als die Distanz… Egal, das muss man gesehen haben, da ist man dabei gewesen!
Leipziger Witz
ICE-Tunnel? Soll man doch eine Röhre graben und einen ICE-Zug hineinstellen, da steigen die Leute am Hbf. ein, laufen durch den Zug hindurch und steigen am Bayerischen Bahnhof wieder aus.
Eiszeit
Unter Leipzig ist es sumpfig. Lößlehm mit Wasser. Den Tunnelplanern wird die Äußerung nachgesagt: “Das Einzige was da unten definierbar ist, ist Wasser. Und Steine, die nicht wissen, wo sie hinwollen!” Leipzig wurde vereist. Mit Stickstoff. Wie man, so sagen geübte Apothekenzeitungsleser, in der Medizin vereist. Zum Beispiel Sperma. Oder aber Warzen. Also “Warz-Ab”, oder “Warts up”. Daraus wurde der Spruch: “Nu wart-s-mer-s mal ab, was da noch passiert…”
Reiselust
Gute Dinge brauchen Zeit. Und die Tunnelbohrmaschine Leonie kann eben nur langsam fahren. Sie darf nicht kippeln oder gar abstürzen, weder zur Seite noch nach vorn. Oder unten. Die Leipziger wussten es besser: “Lasst die Leonie doch fahren! Soll sie doch abstürzen! Und dann fahren wir mit LVB-Tarif nach Neuseeland!”
Sport frei
Während der Bauzeit lobte der Oberbürgermeister das Projekt und schwärmte beim Empfang einer Triathlon-Meisterschaft vom Bau. Gegenfrage von Leipzigern an die Teilnehmer: “Könnten Sie denn mit dem Tunnel was anfangen?” Ohne zu Zögern Zustimmung: “Abschnittsweise könnte man zum Schwimmen Fluten oder Radfahren! Und eine Gartenbahn könnte zur Versorgung nebenher fahren.” Zur Wettkampfbahn dieser Art kam es aber – noch – nicht.
Gewächshäuser
Man kennt das Outfit von Subway-Stationen und die Pracht Moskauer Metrostationen. Letztere und ihre Einweihung durch die Moskauer Arbeiterschaft hatten Bertolt Brecht einst zu einer Jubel-Ballade angeregt, er sah die Passagiere “strahlend wie im Theater”.
Aufsehen erregten nun die Leipziger Zugänge am Wilhelm-Leuschner-Platz, kurzzeitig auch in Diskussionen als Gewächshäuser verschmäht. Immerhin sind die Glaskästen nebst der Station preisgekrönt, die Jury hatte wohl auch nicht viel Auswahl. Dann wurden jene Gewächshäuser in die Tradition des Architekten Mies van der Rohe gebracht. Aber das war nur ein kurzlebiger Scherz. So viel weiß man in der architektonisch kunterbunten Stadt Leipzig auch von Moderne und Bauhaus. ‘ Ein alter obligatorischer Architektentipp zur Gewährleistung gilt auch hier: “Pflanzen Sie Efeu!”
Schildbürgerstreich
Ein Kurzticket berechtigt zur Mitfahrt für vier Stationen. Außerhalb des Tunnels! Wer sich schon zwischen MDR und Bayerischem Bahnhof erwischen ließ, musste raus! Draußen neu bezahlen! So sehen moderne Schildbürgerstreiche aus. Man kommt ja auf dem Weg nach Hoyerswerda auch ziemlich nahe an Schildau vorbei….
Reiseproviant
Das Fehlen der Mitropa oder ähnlicher Snackpoints im Zug hatte selbst den Bruder Barnabas bei der Salvator-Starkbierprobe im Hause Paulaner in Leipzigs Klostergasse zu dem Neuerervorschlag angestachelt, Paulaner möge die sächsisch-bayerische Versorgung zwischen Hauptbahnhof und Bayerischem Bahnhof übernehmen. Quasi auch als Zeichen des weiß-blauen und weiß-grünen Friedens. (Hatte man doch in der Dresdner Staatskanzlei gerade Mitbringsel an die Bevölkerung versteigert, worunter sich ein Löwe aus Nymphenburger Porzellan befand, den Herr Tillich von Herrn Seehofer verehrt bekam.)
Höhenangst
Man staunt über die Höhe der Stationen. Und kommt auf die Idee, dass man Zwischendecken einziehen könnte. Und dann ist Platz für neue Schuhläden, Back-Shops, Apotheken, Reisebüros oder Fahrradgaragen. Vielleicht ja sogar für Naturkundemuseum, Sportmuseum, Musik- und Theatermuseum. Unter dem Marktplatz hätte vielleicht noch eine Untergrundmessehalle Platz und unter dem Hauptbahnhof ein Zeitkino…
Reise-Prominenz
Zur Tunneleröffnung fanden sich Prominente unterschiedlicher Sorten ein. Auch falsche. Dutzendfach kam Charlie Chaplin aus dem Tunnel gefahren, in Form des Leipziger Balletts. Am Bayerischen Bahnhof bestieg dann Johann Sebastian Bach den ersten Zug. Und Alt-Bürgermeister Hieronymus Lotter hob die grüne Kelle zur ersten sogenannten Parallelfahrt. Was hätten der echte Kirchenmusiker Bach sowie der Bergwerksbetreiber und Baumeister Lotter von dieser Reisegeschwindigkeit gehalten? – Sie hätten beide neue Geschäftsideen gewittert! Bach hätte vielleicht seine Kantate geändert: “Angenehmes Wiederau, wie schnell bin ich in Deinen Auen!”
Stuttgart 21?
“Mir gehen mal übern Weihnachtsmarkt” hieß es nun schon zum zweiten Mal auf variable Weise: man konnte auch drunterdurchlaufen. Hier abgetaucht, und man kam ohne Glühwein-, Punsch-, Senf- oder Ketchupflecke drüben wieder hoch. Wenigstens den Hin- oder Rückweg konnte man ja doch über das Marktplatzpflaster unternehmen. Dann war das andere eben ein Umboochen. Gästeführer nutzten diese neue Chance gern, und Gäste aus Baden-Württemberg riefen von ganz alleine “Stuttgart 21!”
Mehr Tunnel!
Und nun? Vielleicht wird es noch was mit dem zweiten Tunnel! Der im Zuge der Olympiabewerbung mit volkssportlich-massenhafter Begeisterung der Leipziger schon geplant war. Vom Hauptbahnhof sollte er zum Sportforum führen, zum Olympiastadion, und dann wäre es gar nicht mehr weit bis zum Olympisches Dorf gewesen… Falls die Berliner sich wieder um die Olympischen Sommerspiele bewerben… Der Olympia-Flughafen steht schon. In der Nähe von Schkeuditz. Sprach man einst beim Störmthaler See noch vor der Flutung bereits von einer Regatta-Strecke? Jetzt ist längst schon Wasser drin!
Glück auf
Alt-Bürgermeister Hieronymus Lotter, einst auch Baumeister an der Pleißenburg, und leidenschaftlicher Bergwerksbetreiber im Erzgebirge, führt gelegentlich Ratskeller-Gäste durch die Kasematten unter dem Neuen Rathaus und dem Burgplatz. Er bedauert das Desinteresse der Tunnelplaner: “Hier wäre schon eine Station, ein Bahnsteig, gewesen!” Und er träumt ab Station Wilhelm-Leuschner-Platz von einem Anschluss in Gartenbahnformat-“Nach Ratskeller, bei Lotter’n!”
Tunnelblick
Mitteldeutsche S-Bahn: Ökolöwe fordert dauerhafte Verlängerung der S5 und neue Haltestelle am Gewerbegebiet Radefeld
Seit dem Fahrplanwechsel …
Ein Jahr Mitteldeutsches S-Bahn-Netz: Ab 14. Dezember sollen zwischen Leipzig und Halle mehr Wagen rollen
Am Donnerstag …
Gerichtsurteil gegen die Bahn: Überhöhte Stationsentgelte in Sachsen sind unrechtmäßig
Hinter all den Luftballons …
Satirisch-Historisch-Politisch blickte das Kabarett academixer längere Zeit von der Bühne aus szenisch in den Tunnel und traf dort auf Liegengebliebenes, Umgelegtes, Abgelegtes aus der Leipziger Geschichte. Das Programm schaffte es leider nicht mehr aus dem heimischen Keller hinaus zu Aufführungen auf den Stationen oder sogar in fahrenden Zügen! Der Programmtitel “Genießen Sie das Leben in vollen Zügen” sei hiermit verspielt.
Wo geht die Reise hin?
Bahnintern soll es schon vor der Röhrenfahrt-Eröffnung Lästermäuler gegeben haben, die eines Tages einen Weltverbesserer kommen sehen wollten, der meinte, es könnte sinnig sein, die S-Bahnen statt durch den Tunnel östlich und westlich um das Stadtzentrum herumfahren zu lassen, um dann von oben in den Hauptbahnhof ein- und wieder hinauszufahren, quasi in Form eines Herzens! Leipziger lieben Schienenfahrzeuge. Die Bimmel ist ein Mythos. Und in der Architektur der neuen katholischen Kirche am Martin-Luther-Ring sah ein evangelisch-lutherischer Pfarrer eine Variante von Jim Knopfs Lokomotive…
Reiten, Fahren…
Witzbolde haben in einer Fotomontage das Stationsschild “Markt” schon mal durch “Auerbachs Keller” ersetzt. Warum auch nicht. “In Leipzig fährst Du besser, wenn Du läufst”, dichtete und sang einst Heinz-Martin Benecke. Den Faust und Mephisto zugedichteten Vers könnte er nun vielleicht ändern, denn es hieß bei ihm “In Leipzig fährst Du besser, wenn Du reitst!” Einen unterirdischen Zugang würde Mephisto schon hinkriegen, und dann geht’s auf der Rolltreppe nach oben…
Leipzig_Markt_Tief
Na wenn das nischt ist! Man tippt sich vor Reiseantritt die Fahrkarte bei bahn.de zurecht, wählt Marktplatz als Start und Ziel. Und dann reist man abends mit dem Nightliner ab Berlin-Hauptbahnhof-Tief mit Umsteigen in Bitterfeld gen Süden und sieht vom Leipziger Hauptbahnhof – nischt! Nur die Tunnel-Station darunter.
Fahrt frei!
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