Es ist kein Zufall, dass ich Tiemo Wölken um ein Interview zu digitalen Themen gebeten habe. Auch er ist mir bei diesen Themen, ebenso wie Axel Voss, aus den Diskussionen von 2019 zur Europäischen Urheberrechtsreform, insbesondere deren Artikel 13, bekannt. Tiemo Wölken war damals quasi der Gegenpart zu Axel Voss. Am 12. März trafen wir uns in seinem Abgeordnetenbüro in Strasbourg und sprachen über die Dominanz US-amerikanischer Anbieter im digitalen Raum, den Digital Service Act und wie Europa digital souveräner werden kann.

Herr Wölken, Sie sind Europaabgeordneter für die SPD, in der Fraktion der Progressiven Allianz der Sozialdemokraten im Europäischen Parlament. Sie vertreten die Fraktion im Ausschuss für Umwelt, Klima und Lebensmittelsicherheit, im Ausschuss für öffentliche Gesundheit, in der Delegation für die Beziehungen zu Südafrika und sind Stellvertreter im Rechtsausschuss.

Wir haben im Moment die Situation, dass Europa komplett von US-amerikanischen Anbietern bei der Digitalisierung dominiert wird. Das fängt an bei den Cloud-Servern, das geht weiter bei den Handelsplattformen, da sind jetzt die Chinesen dazugekommen, und das betrifft die sozialen Medien und die Messenger. Durch die veränderten Beziehungen zu den USA seit Trump an der Macht ist ist ja diese Dominanz wahrscheinlich etwas gefährlicher geworden?

Wir haben in der Tat eine strategische Abhängigkeit von Produkten und Dienstleistungen im digitalen Bereich von den USA, aber natürlich auch aus anderen Teilen der Welt. Das liegt einmal daran, dass Lieferketten natürlich sehr diversifiziert sind. Das heißt, dass wir Chips aber auch andere Hardwareprodukte aus dem asiatischen Raum bekommen.

Wir haben aber auch Abhängigkeiten besonders im Softwarebereich und wir haben auch Abhängigkeiten bei den Plattformen, auf denen wir digital kommunizieren. Und das ist schon so, dass wir als Europäerinnen und Europäer jetzt endlich mal unsere Hausaufgaben machen müssen, um unabhängiger zu werden. Ich will nicht sagen, dass man sich komplett von den USA lossagen können wird.

Aber das muss schon der Anspruch sein. Denn wir sehen: Wenn sich eine Demokratie auf den Weg macht, sich in eine Autokratie zu verwandeln, hat das natürlich insbesondere für die Plattformen, auf denen wir unsere demokratischen Rechte ausüben, massive Implikationen.

Es gibt ja den Digital Services Act, der diese Beziehungen eigentlich schon regelt. Mr. Trump sagt: Ich will meine Meinungsfreiheit! Er und die Plattformbetreiber wollen nicht, dass die Plattformen an europäische Gesetze gebunden sind.

Also das, was Elon Musk und Donald Trump als Meinungsfreiheit definieren und diskutieren, ist nicht Meinungsfreiheit, sondern das bedeutet für sie: Sie wollen unwidersprochen ihre Sicht der Dinge, meistens ihre Lügen verbreiten. Und das ist ihnen auch in Europa unbenommen. Sie können hier frei lügen, sie können hier erzählen, dass Putin gar nicht für den Krieg gegen die Ukraine verantwortlich ist, sondern dass das Selenskyi ist.

Sie können all diese Lügen verbreiten. Sie müssen allerdings damit leben, dass in einem demokratischen und in einem grundrechtsorientierten Raum Widerspruch bei solchen Lügen auftaucht. Und das wollen sie nicht. Das ist ihnen ein Dorn im Auge. Deswegen tun sie so, als ob wir mit dem Digital Services Act Zensur ausüben würden.

Aber das Gegenteil ist der Fall. Wir stellen damit sicher, dass nicht der lauteste, nicht der reichste Mensch der Welt gehört wird, sondern jeder gehört wird. Und dass es da, wo Persönlichkeitsrechte betroffen sind, da wo Straftaten begangen werden, es eben auch Grenzen gibt. Und diese rechtsstaatlichen Prinzipien gelten auch für den reichsten Mann der Welt und für den Chef im Weißen Haus.

Europaabgeordneter Tiemo Wölken (SPD). Foto: Thomas Köhler
Europaabgeordneter Tiemo Wölken (SPD). Foto: Thomas Köhler

Kann man diese rechtsstaatlichen Prinzipien unter den jetzigen Bedingungen, also so wie die Eigentumsrechte an diesen Plattformen sind, überhaupt durchsetzen?

Ja, man kann das durchsetzen. Also erstmal sehen wir, dass wir innerhalb der Europäischen Union jetzt mit dem DSA, aber auch mit dem DMA ein ganz neues Regelset haben. Am Ende des Tages gibt es auch die Möglichkeit, hohe Strafen zu verhängen, orientiert am Umsatz der Plattformen und im Ultima-Ratio-Fall den Zugang zur Plattform auch zu blockieren. Das ist etwas, was sehr gut überlegt sein muss.

Und es gibt natürlich auch theoretisch technische Möglichkeiten, das zu umgehen. Deswegen bin ich nicht hundertprozentig von dieser Lösung überzeugt, aber wir haben diese Möglichkeit. Das ist ja in den USA zum Beispiel auch diskutiert worden, als das TikTok-Verbot im Raum stand. Hier in Europa ist es nun mal so, dass wir immernoch, und das ist gut so, dafür kämpfe ich auch weiterhin, in einer Gesellschaft leben, in der die Stärke des Rechts gilt und nicht das Recht des Stärkeren.

Also Elon Musk kann sich seine Milliarden hier nicht so vergolden, wie er das in den USA kann. Deswegen glaube ich auch, dass der DSA durchsetzbar ist. Was es aber auch bedarf, ist, dass die Europäische Kommission dann jetzt endlich mal ihre Hausaufgaben machen muss und zum Beispiel die Untersuchung gegenüber X, die vor über einem Jahr gestartet wurde, abschließen muss. Und dann, wenn Verstöße festgestellt werden, zum Beispiel bei der Transparenz, zum Beispiel bei der Neutralität der Algorithmen, auch Sanktionen verhängen muss.

Europaabgeordneter Tiemo Wölken (SPD). Foto: Thomas Köhler
Europaabgeordneter Tiemo Wölken (SPD). Foto: Thomas Köhler

Brauchen wir Ihrer Meinung nach eine europäische Plattform? Brauchen wir eine stärkere europäische Macht im digitalen Raum?

Was wir brauchen, ist die Unterstützung von europäischen Unternehmen. Wir brauchen mehr erfolgreiche Startups. Dafür muss man zum Beispiel schauen, wie sich Startups finanzieren. Wir brauchen Regeln in Europa, die es ermöglichen, auch innovativ zu sein, gleichzeitig aber unsere Schutzstandards nicht zu unterlaufen. Und das sind Dinge, die wir in Europa auch hinbekommen können.

Was wir nicht brauchen, ist zu sagen: Wir brauchen gar keine Regeln mehr, damit hier irgendwas passiert. Und ein dritter Punkt, den ich sagen würde, der essentiell ist und der für uns auch ein Wettbewerbsvorteil sein kann, ist die ganze Debatte um Open Source. Also Programme, die hier geschrieben werden, die hier entwickelt werden.

Ich habe das zum Beispiel im Rahmen der ganzen Chips-Act-Diskussion, als es darum ging, wie wollen wir Chips in Europa produzieren, gesagt: Es hilft nicht, immer mehr Geld auf den Haufen zu werfen, weil da werden die Amerikaner immer tiefere Taschen haben und schneller reagieren können, sondern wir brauchen Open-Source-Infrastruktur, um so etwas zu entwickeln.

Und das ist etwas, was interessanterweise die Europäische Kommission jetzt aufgreift, allerdings im Bereich der Automobilindustrie. Dort wurde jetzt in dem Fahrplan zum Aktionsplan Automobilindustrie endlich mal begriffen, dass Open Source, das gemeinsame Entwickeln, das Zurverfügungstellen, das Aufbrechen von Marktmacht, ein zentraler Schlüssel sein kann. Und da können wir als Europäische Union noch viel, viel mehr machen.

Nach allem, was Sie über Open Source sagen: Sie arbeiten hier mit Microsoft?

Ja, es ist so, dass wir als Europäisches Parlament, als Europäische Institution, genauso wie fast alle anderen öffentlichen Verwaltungen in Europa, auf Microsoft-Produkte setzen und damit auch auf Microsoft-Server angewiesen sind. Hier bei uns haben wir europäische Server, so ist es nicht. Aber trotzdem ist es so, dass wir auch bei Software eine wahnsinnige Abhängigkeit haben.

Ich habe da vor ewigen Jahren auch schon mal Anfragen an die Europäische Kommission gestellt, ob man das nicht mal ändern wollen würde. Da werden wir sicherlich eine neue Diskussion jetzt drüber bekommen und brauchen da auch mehr Unabhängigkeit. Denn wenn Microsoft oder auch Amazon irgendwann auf die Idee kommt oder von Trump gezwungen würde, zum Beispiel unliebsame europäischen Institutionen die Server abzustellen und sie sich daran hielten, würden wir natürlich große Probleme bekommen.

Deswegen noch mal: Wir müssen als Europäer unabhängig werden und dafür gibt es auch ein schönes neues Stichwort, das heißt Eurostack. Das bedeutet, dass wir kritische Infrastruktur, kritische Dienstleistung, kritisch Digitales als Europäer selber entwickeln müssen, selber bereitstellen müssen. Und das ist eine Aufgabe, die für diese Legislaturperiode eine sehr große ist.

Europaabgeordneter Tiemo Wölken (SPD). Foto: Thomas Köhler
Europaabgeordneter Tiemo Wölken (SPD). Foto: Thomas Köhler

Eine letzte Frage noch: Es gibt in Europa schon länger diesen Streit um Eingriffe in die digitale Welt. Die einen wollen Chat-Kontrolle, die anderen wollen Vorratsdatenspeicherung und so weiter. Wie kann man eigentlich, ohne unverhältnismäßig in Freiheitsrechte einzugreifen, eine gewisse Regulierung im Social Media machen?

Wir haben mit dem DSA, glaube ich, einen Ansatz gewählt, der die verschiedenen Interessen in den ganz guten Ausgleich bringen kann. Anders als Trump oder Elon Musk das behaupten, ist der DSA keine Zensurmaschine, sondern man darf alles, was legal ist, sagen. Da, wo offensichtlich Rechtsverstöße passieren, also zum Beispiel Volksverhetzung betrieben wird, ein sexueller Missbrauch live gestreamt wird, ein Mord dargestellt wird, das müssen die Plattformen sofort entfernen. Das ist ganz klar eine Straftat.

Ansonsten gilt: Erstmal darf man alles sagen und wenn sich jemand beschwert, muss die Plattform gucken: Ist das ein Verstoß gegen Recht oder nicht? Und gegen diese Entscheidung kann dann derjenige, der etwas gepostet hat, wieder vorgehen. Das heißt, wir haben klare rechtsstaatliche Spielregeln gesetzt. Dann gab es Überlegungen, ob man nicht die Plattform zwingt, alles was gepostet wird, alles was live gestreamt wird, automatisch zu scannen und dann KI entscheiden zu lassen, ob es legal oder illegal ist.

Das Problem ist nur, dass die KI völlig unkontrolliert ist und natürlich auch häufig halluziniert. Das heißt, zum Beispiel falsch positive Antworten gibt. Und da ist dann das Standardbeispiel, dass man seiner Familie ein Foto vom Strand schickt und das wird dann irgendwie als Nacktheit identifiziert und dieses Foto wird gelöscht. Das ist natürlich ein Eingriff in die Kommunikation, wenn jede Kommunikation untersucht werden soll. Gegen diese Überwachung jeder einzelnen Kommunikation haben wir uns weiterhin ausgesprochen. Es gilt weiterhin das Verbot der allgemeinen Überwachung und das ist auch richtig so.

Herr Wölken, ich bedanke mich für das Gespräch.

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