Als deutscher Journalist kann man, wenn es um Russland, den russischen Angriffskrieg in der Ukraine und europäische Verteidigungspolitik geht, mit deutschen Ex-Militärs, Politikern oder Verteidigungsexperten sprechen. Ohne diesen nahe treten zu wollen: Ihre Sicht darauf ist oft distanziert und teils akademisch. Man kann auch, wie die „Berliner Zeitung“, den Ex-Staatsratsvorsitzenden der DDR, Egon Krenz über das Verhältnis der Ostdeutschen zu Russland befragen. All das ist selbstverständlich legitim.

Aus der räumlichen Nähe zu Russland, wie von den baltischen Staaten her, sieht das anders aus. Deshalb vereinbarte ich ein Gespräch mit dem Europaabgeordneten Riho Terras aus Estland. In Strasbourg kam es in der letzten Woche leider nicht zu diesem Gespräch. Dankenswerterweise konnten wir das am 20. März per Zoom nachholen.

Zur Erinnerung, im Europaparlament in Strasbourg wurde in der Plenarwoche, vom 10. bis 13. März, über die Europäische Sicherheitsarchitektur und die Unterstützung für die Ukraine debattiert und abgestimmt.

Meine Intention bei dem Gespräch war es, mehr über die Nahsicht eines Nachbarlandes auf Russland und die daraus entstandenen Schlussfolgerungen für die europäische Verteidigung zu erfahren. Im ersten Teil geht es um die Sicht auf Russland als Nachbarn.

20.03.2025, 14.00 Uhr – Zoom-Meeting mit Riho Terras

Ich spreche heute mit Riho Terras, dem Europaabgeordneten für die Isamaa in der Fraktion der Europäischen Volkspartei (Christdemokraten). Riho Terras ist studierter Historiker, hat nach der Unabhängigkeit Estlands eine militärische Laufbahn eingeschlagen und war von 2011 bis 2018 militärischen Befehlshaber der estnischen Streitkräfte im Generalsrang.

Seit 1. Februar 2020, als Estland ins Europaparlament einzog, vertritt er Estland als Mitglied des Europäischen Parlaments und wurde bei der Europawahl 2024 wieder gewählt. Riho Terras ist stellvertretender Vorsitzender des Ausschusses für Sicherheit und Verteidigung und Mitglied im Ausschuss für auswärtige Angelegenheiten.

Ich habe auch an der Bundeswehr-Universität in München Staats- und Sozialwissenschaften studiert, also bin nicht nur Historiker, sondern auch Staats- und Sozialwissenschaftler.

Herr Terras, soweit mir bekannt ist, haben Sie bereits vor dem russischen Angriff auf die Ukraine Ihren Fraktionsvorsitzenden Manfred Weber vor diesem gewarnt. Stimmt das so?

Ja, im Oktober 2021 habe ich in der Fraktionsgruppe der Europäischen Volkspartei gesagt, dass wir aufhören müssen, über die unwichtigen Themen zu sprechen, und anfangen über den Krieg zu sprechen, der demnächst in Europa stattfindet. Und Manfred Weber habe ich noch im Januar, speziell im Jahr 2022, darüber erzählt. Wir haben dann zusammen eine Reise nach der Ukraine geplant für den 20. Februar 2022.

Ich war da, Manfred konnte nicht mehr hinfliegen, aber ich war am 20. Februar 2022 in Donezk, in Wuhledar, einem Ort, der neulich erobert worden und in russische Hand gefallen ist, an der Frontlinie, sodass ich das aus der ersten Reihe gesehen habe.

Als Bürger Estlands, besonders mit Ihrer militärischen Erfahrung: Wie schätzen Sie die Gefahr durch Putins Russland für seine Nachbarstaaten, insbesondere die ehemaligen Sowjetrepubliken ein?

Erstens muss ich sagen, dass ich mich nie als Bürger einer ehemaligen Sowjetrepublik gefühlt habe. Das heißt: Wir waren okkupiert und waren keine freiwillige Sowjetrepublik. Also das alles ist schon seit 33 Jahren oder fast 35 Jahren schon vorbei. Da muss ich dazu sagen: Ich mag diesen Begriff ehemalige Sowjetunion nicht, 35 Jahre nachdem wir die losgeworden sind und wir waren nur 50 Jahre dabei.

Putins Russland hat, ich sage mal, Kolonialkriege geführt und führt Kolonialkriege. Es hat mit Tschetschenienkriegen angefangen, als das Gefühl da war, dass die Tschetschenen sich unabhängig machen. Nachdem Putin zur Macht kam, wurde der Krieg wieder angefangen und Groznyy wurde vernichtet, ist vom Erdboden verschwunden.

Genau das, was wir in Mariupol sehen oder Aleppo. Russland hat nie daran Interesse gehabt, eine freundliche Beziehung zu Europa zu haben. Putin hat ja 2007 schon gesagt, dass die Westeuropäer zu schwach geworden sind.

Riho Terras, Europaabgeordneter aus Estland. Foto: Thomas Köhler
Riho Terras, Europaabgeordneter aus Estland. Foto: Thomas Köhler

Deshalb müssen wir unsere Einflusszonen wieder neu teilen oder zurück zu den alten Regeln kommen. Und dieses Ziel hat er auch in der Münchner Sicherheitskonferenz 2007 ganz deutlich geäußert. Er hat gesagt: Ukraine ist kein Land und Krim gehört Russland. Wenn wir die Ukraine fragen, auch vor dem Krieg, auch in den Sowjetzeiten, waren die Ukrainer immer sehr stolze Ukrainer und haben sich nie als Russen gefühlt.

Das ist mit Sicherheit der Fall. So, dass die Kriege eigentlich Kolonialkriege sind, bei denen es um die Bodenschätze geht. Ukraine ist die größte Schatzkammer von Europa und um den Donezk hat es immer Kriege gegeben. Und auch in diesem Krieg 2014 ging es um Lithium und andere Bodenschätze in diesem Bereich. Aber natürlich bereitet Russland sich für einen Krieg mit Europa auch ideologisch vor. In Geschichtsbüchern kann man das lesen.

Das zweite war immer, dass die mit billigem Gas uns wie einen Drogenabhängigen beeinflussten. Das billige Gas hat Europa reich gemacht. Leute wurden sehr gemütlich, wollten und wollen nicht über den Krieg nachdenken, und jetzt kommt das alles als eine große Überraschung für die Europäer. Also 2008 wurde Georgien angegriffen mit Waffen, mit einer ganz konventionellen Armee, um die politischen Ziele zu erreichen. Das, hat man gesagt, war wie ein Weckruf.

Ich würde sagen: Einen Komapatienten kann man nicht mit einem Wecker wecken. Man muss irgendwelche Medikamente einführen. Und ich hoffe, dass Europa jetzt nach elf Jahren des Krieges und durch Trump aufgewacht ist und dass die Medizin, die 800 Milliarden Euro, die die Europäische Union zur Verfügung stellen will für die Beschaffung von Munition und Waffen für Europa, dass es tatsächlich jetzt stattfinden wird.

Weil: Die 30 Jahre hat man das komplett außer Acht gelassen. Die Bundeswehr wurde von ich glaube 30 oder 35 Brigaden auf drei oder acht, wer weiß genau wie viele das heute sind, abgebaut. Die Eurofighter fliegen nicht, die Panzer könnten nicht fahren und so weiter. Auch das, was in Deutschland jetzt passiert, sogar die Zeitenwende von Kanzler Scholz, aber besonders jetzt die Aussagen von Kanzlerkandidaten Merz, geben mir das Gefühl, dass da Interesse ist, etwas zu tun.

Aber natürlich wollen die Deutschen, ein großer Teil der Bevölkerung, mit Russland gut zurechtkommen. Ich kann das auch nachvollziehen. Aber ich sage: Man darf und kann den Russen nicht vertrauen, weil die dich immer ausnutzen. Das haben die immer gemacht, ich habe es in der Geschichte gelernt. Wissen Sie, wie viele Male Estland durch Russland in den letzten 1.000 Jahren angegriffen worden ist?

Ich weiß es nicht genau, aber es war oft.

40 Mal, das heißt alle 25 Jahre. Deshalb sind wir in Estland nicht überrascht, aber wir fürchten auch nicht. Ich wurde immer gefragt, ob Furcht da ist, ob die Esten Russland fürchten. Nein, aber wir wissen, dass der Tag kommt, das heißt: Wir müssen uns vorbereiten. Und da Estland ein sehr kleines Volk ist, haben wir es nie alleine geschafft.

Das heißt: Wir müssen in Allianzen gehen und uns mit Verbündeten zusammen verteidigen. Deshalb ist Estland in NATO, deshalb ist Estland in der Europäischen Union, deshalb haben wir in allen Kriegen mitgemacht, wenn die Amerikaner oder die NATO uns gefragt haben, oder die Franzosen oder die Briten. Weil wir immer gesagt haben, wir machen unseren Teil, aber wir hoffen, dass wenn es darauf ankommt, auch die anderen etwas machen. Heute haben wir die Briten, die Franzosen und die Amerikaner in Estland stationiert, um Estland gemeinsam zu verteidigen.

Wir haben unsere Verteidigungsausgaben auf 4 Prozent erhöht und gestern wurde entschieden, dass es über 5 Prozent sein soll im nächsten Jahresbudget. Das heißt: Wir investieren sehr viel. Letztes Jahr war Estland der größte Beschaffer von Munition und Waffen in Europa und nicht per capita, sondern in der realen Summe. Also wir haben tatsächlich alles gekauft, was vorhanden ist.

Und wir sagen, wir werden nie aufgeben, mit oder ohne Verbündete. Wir werden kämpfen. Die Ukraine hat uns das gezeigt. Estland hat in der Unabhängigkeit einen Krieg mit Russland gewonnen. 1918 bis 1920 hat Estland mit Russland Krieg gehabt und wir haben diesen Krieg gewonnen. Die Finnen haben den Krieg gegen Russland gewonnen. Die Ukraine ist am Gewinnen.

Das heißt: Wenn jemand mir sagt, dass es nicht möglich ist, gegen Russland zu stehen, dann ist das ein Witz. Und Europa ist zwar schwach und militärisch kann es viel besser sein, aber immerhin haben wir dreimal so viele Flugzeuge wie Russland. Wir haben genauso viele Soldaten, wir haben genauso starke Streitkräfte und wir haben eine Wirtschaft, die zehnmal, oder mehr, größer ist als die Russlands. Wir können es, wenn wir es wollen.

Riho Terras, Europaabgeordneter aus Estland. Foto: Thomas Köhler
Riho Terras, Europaabgeordneter aus Estland. Foto: Thomas Köhler

Herr Terras, alle sprechen von einem Waffenstillstand. Ich habe zwei Fragen dazu. Zum einen: Der ukrainische Präsident hat sich auf Drängen Donald Trumps jetzt zu einer 30-tägigen Waffenruhe bereit erklärt. Putin sagte gestern, er würde für 30 Tage auf Angriffe gegen die Energieinfrastruktur verzichten. Diese Angriffe sind ja schon Kriegsverbrechen. Kann man in dieser Frage Putin überhaupt trauen?

Nein, also man darf den Russen nicht trauen. In dem gleichen Satz, als er gesagt hat, dass er das akzeptieren würde, hat er gesagt, dass die Ukraine dafür kapitulieren muss. Das heißt, dass die Ukraine selbstständig keine Truppen mehr führen darf, keine Mobilisation durchführen darf oder Unterstützung von anderen Ländern für das Militär bekommen darf.

Das ist eine klare Aussage, dass die Russen nur eine Kapitulation von der Ukraine akzeptieren. Deshalb vertraue ich Putin nicht und ich sage, diese Verhandlungen werden noch sehr, sehr schwierig sein, weil die Ukraine heute stark genug ist, um für die eigene Sicherheit zu stehen, auch ohne die USA, wenn es nötig ist. Aber mit den Europäern.

Die andere Frage: Eine Waffenruhe dient im militärischen Kontext oft zur Reorganisation der Truppen. Während der Waffenruhe werden diplomatische Gespräche geführt, aber ob die erfolgreich werden, weiß man nicht. Das bedeutet, 30 Tage Waffenruhe sind 30 Tage Zeit zur Reorganisation. Würde Putin diese Zeit nutzen, um dann mit frischen Kräften wieder anzugreifen?

Es könnte so sein. Aber ich sage mal, dass Russland jetzt mit vollem Dampf läuft und die ganze Industrie jetzt drei Jahre lang diesen Krieg geführt hat. Sie waren nicht fähig, die Ukraine zu irgendetwas zu zwingen. Das Gleiche gilt ja auch für die Ukraine. Die Waffenruhe würde dann auch die Reorganisation der ukrainischen Streitkräfte bedeuten. Ukraine hat jetzt eine deutlich bessere Verteidigungswirtschaft und Rüstungsindustrie. Ukraine war 2014 der fünftgrößte Exporteur der Waffen und Munition in der Welt vor dem Krieg. Das heißt: In dem Sinne nützt es beiden Seiten.

Natürlich bin ich auch dafür, dass das Töten aufhört. Aber es müssen gerechte Bedingungen sein. Ich glaube auch, dass Trump jetzt verstanden hat, dass Russland kein guter Partner in diesem Zusammenhang sein wird. Es sind auch viele in Europa, besonders in Deutschland, die jetzt erwarten, wenn der Krieg aufhört, dann müssen wir wieder gute Beziehungen mit Russland haben. Ihr müsst auch in Westeuropa gucken, welche Geschäfte Russland mit Europa gemacht hat.

Nur die Geschäfte, in denen sie die Oberhand haben. Die haben Europa ausgenutzt, aber nicht geholfen. Wir sind wegen Russland in eine Energiekrise geraten, unsere Banken sind jeden Tag durch Cyberattacks angegriffen worden. Russland tötet auf den Straßen von Europa, auch Deutschland hat es gesehen. Das heißt, die können auch gegen die Bürger in Deutschland vorgehen.

In dem Sinne: Man darf denen nicht vertrauen und Putin versteht nur die Sprache der Macht. Und deshalb sage ich sehr oft, wir müssen aufhören Eiskunstlaufen zu betreiben, wenn Russland Eishockey spielt.

Im Teil zwei des Gespräches geht es um die europäische Verteidigungspolitik.

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In Georgien ist es etwas komplizierter wie er es darstellt. Die Georgier verwehren den Osseten seit 1918 die Unabhängigkeit. Das müsste ihn als Este aber bekannt sein. Bei dem Anschluss der Krim an die Ukraine ist es auch ähnlich wie der Anschluss Estland an die Sowjetunion zugegangen und wie hat er das bezeichnet.

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