Für FreikäuferLEIPZIGER ZEITUNG/Auszug Ausgabe 68, Juni 2019 im HandelIrgendwo um Stufe 500 herum hörte ich schon auf zu zählen. Wie viele es insgesamt sind, ist nicht ganz klar. 4.500? 5.000? Auf jeden Fall kam es mir bei dem Blick nach vorn nicht so vor, als wollen die unzähligen ausgetretenen, zum Teil kniehohen Stufen jemals ein Ende nehmen. Nachts um 3 wahrlich kein Zuckerschlecken.
Zumal ich seit einer halben Stunde allein war; na ja, fast zumindest. Meine Reisepartnerin Gina war nach den ersten 100 Metern umgedreht, ihre Gicht hatte den Aufstieg auf den 2.243 Meter hohen Adam’s Peak unmöglich gemacht. Nun stand ich also da, am Fuße eines der heiligsten Berge des Buddhismus, ausgestattet mit einer kleinen Taschenlampe, auf dem Rücken den Rucksack mit reichlich Wasser, darunter meinen dicksten Pullover und eine Jacke.
Wenngleich Sri Lanka im Allgemeinen nicht gerade für kalte Temperaturen bekannt ist, so kann es doch nachts ziemlich frisch werden, vor allem im Hochland der Landesmitte. Trotz der Kühle, die mich umgab, trotz des Alleinseins freute ich mich auf den Aufstieg, der vor mir lag und schätzungsweise dreieinhalb bis vier Stunden dauern sollte. Immer steil nach oben, entlang riesiger Buddhastatuen und kleinen Tempeln, die bei dem spärlichen Licht immer erst im letzten Moment auftauchten.
Nach ein paar hundert Metern, die ich nun alleine unterwegs war, tauchten die ersten Mitbesteiger auf, die, meist zu zweit, auch versuchten, so auf den Gipfel des Berges zu kommen, dass sie kurz vor Sonnenaufgang oben sind um das tägliche Wunder der Natur von einem ganz besonderen Ort aus zu bewundern. In der Ferne konnte man vereinzelte weitere Lichter von Taschenlampen erkennen, alleine würde ich also nicht sein.
Bloß gut, denn obgleich ich weder Angst vor der Dunkelheit hatte noch mit Zweifeln dem anstrengenden Weg gegenübertrat, hatte mich doch irgendwie ein mulmiges Gefühl beschlichen als ich nach Ginas Umdrehen vorerst alleine war. Knapp 8.000 km von der Heimat und selbst eine Stunde mit dem Tuk Tuk von der nächsten Ortschaft entfernt. Den Aufstieg wollte ich aber unbedingt schaffen, das erste richtig große Abenteuer meiner Weltreise lag immerhin direkt zu meinen Füßen.
Reisevorbereitungen
Begonnen hatte ich diese am 20.08.2018. Nach allerlei Abschiedstränen stand ich am größten deutschen Flughafen und traf dort zum ersten Mal meine Reisebegleiterin Gina, die ich über ein Reisepartnerportal im Internet kennengelernt hatte. Mein Leben hatte mich direkt nach dem Abitur direkt aus der Schule an die Universität geführt, wo ich pflichtbewusst innerhalb der Regelstudienzeit meinen Abschluss machte.
Es folgten zwei Jahre des Referendariats bevor ich unmittelbar danach ins Berufsleben startete. Diese Zeit war oft geprägt von mancherlei Sinnfragen: Soll es das schon gewesen sein? Was gibt es da draußen noch? Besteht das Leben nur aus Lernen und Arbeiten? Ach und: Wo war ich eigentlich geblieben in den letzten Jahren?
Ein guter Freund von mir nahm sich öfter mal längere Auszeiten um die Welt zu entdecken und ich hatte das Gefühl, vier Wochen im Sommer reichten mir auch nicht mehr aus, um völlig frei zu sein, um zu machen, was ich wollte, ohne zeitlichen Druck, ohne das Bewusstsein, im August wieder in das Hamsterrad zurückkehren zu müssen.
Und so beschloss ich also, mir ein halbes Jahr freizunehmen, bestärkt durch die ermutigenden Worte meiner Chefin, unterstützt durch unsere Finanzabteilung, die einen machbaren Finanzierungsvorschlag analog zu Altersteilzeitregelungen anbot. Ich war also frei, frei, ein halbes Jahr lang zu tun, was ich wollte, wo ich wollte, wie ich es wollte. Und eines war mir klar: Alleine wollte ich nicht sein, dazu war ich dann doch zu sehr Sicherheitsmensch.
So machte ich mich schleunigst auf die Suche nach einer möglichen Reisebegleitung, Portale dazu gibt es wie Sand am Meer und damit tauchte ich in eine Welt ein, die ich vorher nicht ansatzweise kannte: Seiten, auf denen Menschen Gleichgesinnte suchten, die mit ihnen reisen wollen würden, ob zwei Tage übers Wochenende, eine Woche Skifahren in die Alpen oder eben für ein halbes Jahr auf Weltreise.
Und so lernte ich Gina kennen, die auf mein Gesuch antwortete. Von Anfang an verstanden wir uns prima, telefonierten ab und zu, planten alle Flüge gemeinsam, tauschten uns über notwendige Impfungen und unsere Reiseausstattung aus. Es schien alles perfekt. Das einzige Manko: Sie lebte auf Gran Canaria und ein persönliches Treffen würde vor unserem Abflugtermin nicht möglich sein. Aber was soll’s, wird schon gutgehen, dachten wir beide, schließlich lagen wir voll auf einer Wellenlänge, wie es schien. Und so kam es, wie es kommen musste: Wir sahen uns erstmals auf dem Flughafen in Frankfurt.
Colombo
Nicht mal zwölf Stunden später fanden wir uns in Colombo wieder, der de facto-Hauptstadt Sri Lankas – de jure ist Sri Jayawardenepura die Hauptstadt, alle wichtigen Verwaltungsinstitutionen und politischen Repräsentanten sind allerdings in Colombo angesiedelt, zudem ist sie die größte und wirtschaftlich stärkste Stadt. Meine erste Reaktion auf die Kultur des Landes, die sich schon am und um den Flughafen zeigte, würde ich heute mit Erstaunen umschreiben, damals hatte ich eher das Gefühl, erschlagen zu werden.
Lektion 1, deutlich gemacht mit einer riesigen Statue des Begründers der buddhistischen Weltreligion direkt an der zentralen Ankunftshalle: Buddha ist heilig und daher ist es unter Strafe verboten, Fotos mit ihm zu machen, bei dem man der Statue den Rücken zuwendet. Daneben stehen ist ok, aber ja nicht davor mit Blick zur Kamera. So weit, so gut.
Lektion 2: Auf Drogenbesitz steht in Sri Lanka die Todesstrafe. Sehr gut. Warum haben wir nicht solche abschreckenden Hinweisschilder auf unseren Flughäfen? Ach so, ja, wir haben keine Todesstrafe. Die abschreckende Wirkung hat der übergroße Hinweis aber auf alle Fälle nicht verfehlt.
Lektion 3: Der US-Dollar scheint auch für Sri Lanker die internationale Währung mit der größten Kaufkraft schlechthin zu sein, schließlich bezahlte man das Visum damit. Eigene Währung (Sri Lanka Rupie)? Fehlanzeige! Später in Kambodscha sollte mir dieser Umstand noch um einiges deutlicher ins Auge fallen. Dazu in einem der nächsten Teile mehr.
Online ist ein Muss und eine weite Fahrt
Gut, durch die Kontrollen war ich durch. Dann ging der sprichwörtliche Wahnsinn aber erst einmal richtig los. Wahnsinn war es beispielsweise, wie günstig man SIM-Karten erwerben kann. Auch wenn ich im Vorfeld meiner Reise dann und wann gedacht hatte, mich für ein halbes Jahr komplett von meinem Handy zu trennen, so hatte ich es letztendlich nicht übers Herz gebracht, den digitalen Kontakt in die Heimat von vornherein ganz sein zu lassen.
Zudem sollte es sich als äußerst sinnvoll erweisen, mobile Daten zu haben, sei es um Unterkünfte zu buchen, Infos über Öffnungszeiten oder den nächsten Geldautomaten zu bekommen oder auf Onlinekarten bestimmte Wege zu planen. Also tat ich es Gina gleich und erwarb eine lokale SIM-Karte, wobei es nicht einfach war, sich zu entscheiden, schließlich umwarben einen gefühlte hundert Telefongesellschaftsmitarbeiter (wahrscheinlich waren es aber nur fünf).
Doch das sollte nichts sein gegenüber den unzähligen Versuchen hunderter (diesmal wirklich) Taxi-, Tuk Tuk- und Busfahrer, die versuchten, uns mit ihren tollen Angeboten in ihr Fahrzeug zu locken – selbstverständlich auch ohne das Wissen, wo wir überhaupt hinwollten. Unsere erste Unterkunft hatten wir nach einer schlichten Sichtung bei einer führenden App in diesem Bereich gebucht und gaben diese Adresse dem Fahrer, für den wir uns entschieden hatten.
Nach einer guten Stunde Fahrt – erst über die Autobahn, dann über größere Straßen bis schließlich hin zu kleinen Nebengassen – hielt unser Auto plötzlich an. In schlechtem Englisch beziehungsweise unter Zuhilfenahme einer Onlineübersetzungsmaschine versuchte uns unser Fahrer deutlich zu machen, dass erstens unser Geld „alle“ wäre – wenn wir weiterwollen, müssten wir noch etwas nachlegen – und zweitens die Gegend, in die wir wollten, wohl eine sehr gefährliche wäre.
Ach was. Das fiel ihm also nach einer Stunde ein? Dabei hatte er doch auch vorher gewusst, wohin wir wollten. Ich diskutierte mit dem Fahrer hin und her bis schließlich Gina von der Rückbank vorschlug, dass wir einfach bezahlten und gut. Ihr ging es nicht besonders und sie wollte einfach nur ankommen. Tatsächlich wirkte die Gegend um unser Ziel herum aber nicht sonderlich vertrauenerweckend und so folgten wir dem Rat unseres Fahrers und ließen uns wieder mit zurück in die Innenstadt nehmen, um nach einer neuen Unterkunft zu suchen (die andere hatten wir glücklicherweise nicht im Voraus bezahlt).
Insgesamt kostete uns diese erste Fahrt 15 Euro. In Deutschland würde dafür ein Taxi keine Viertelstunde herumfahren, in Sri Lanka war es eine Unsumme. Sicherlich freut sich der Fahrer heute noch darüber. Und wir waren um eine Erfahrung reicher. Und um eine Devise: Immer verhandeln, immer! Daran musste ich mich als braver Deutscher erst einmal gewöhnen, denn wer nutzt hierzulande schon tatsächlich die Möglichkeit, um Preise zu feilschen?!
Geärgert habe ich mich damals jedenfalls nicht, zum Reisen gehören solche Erfahrungen halt dazu, nein, solche Erfahrungen machen das Reisen ja überhaupt erst zu dem, was sein Wesen ist: kulturelle Andersartigkeit kennenlernen, seinen eigenen individuellen wie ethnischen Platz in dieser Welt reflektieren und relativieren, seine eigenen Grenzen wahrzunehmen und sie ein Stück weit zu verschieben.
Nachdem wir die erste Nacht in einem Schlafsaal eines Hostels verbracht hatten – eine Form von Unterkunft, die wir beide eigentlich nie wollten (wie war das mit den eigenen Grenzen?!) – sahen wir uns am nächsten Tag in Colombo um. Und waren enttäuscht. Palmen? Türkisblaues Wasser? Koloniale Architektur? Bunte Märkte? Nein. Dafür viel Plastemüll, dreckiges Wasser, üble Gerüche und moderne Großbauten. Toller Auftakt der Reise.
Und dennoch: So war die Stadt halt
Denn auch das ist Reisen: Medienbilder und Idealvorstellungen mit der Realität vergleichen. Colombo sollte nicht unsere Stadt sein und sie musste es ja auch nicht. Ohnehin wussten wir, dass eine (de facto-) Hauptstadt ja nicht zwingend repräsentativ für ihr Land sein musste. Wer Paris gesehen hat, kennt schließlich auch nicht automatisch Straßburg, die Bretagne oder die Pyrenäen.
Über ein halbes Jahr später zu Hause sitzend bin ich froh, dass ich Colombo zu einem Zeitpunkt gesehen habe, als der Terror noch nicht das Bewusstsein das Landes erschüttert hat und die Menschen an der Westküste Sri Lankas einfach ihren Alltagsgeschäften nachgehen konnten – und ich hatte die Möglichkeit, ihnen dabei zuzusehen.
Es sollte noch ein ganzes Weilchen dauern, bis ich tatsächlich realisierte, dass ich ein halbes Jahr frei hatte, dass es nicht darum ging, in Manier einer Pauschalreise so viele Attraktionen wie möglich abzuarbeiten, dass es sich lohnte, Gerüche, Geschmäcker und Geräusche wahrzunehmen, weil man nicht wissen kann, ob sich die Möglichkeit jemals wieder bieten würde und dass es besonders wertvoll war, Begegnungen wertzuschätzen, die womöglich sämtliche Pläne über den Haufen werfen konnten.
Inwiefern mir dies gelungen ist, wie es mit Gina und mir weiterging, ob ich den Aufstieg auf den Adam’s Peak tatsächlich geschafft habe und welche Erlebnisse mir in Sri Lanka noch zuteil wurden, dazu das nächste Mal mehr…
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