Wir sind in Paris angekommen und betreten nun unsere Ferienwohnung in der ersten Etage eines schmuck aussehenden Hauses im Stadtteil Montmartre. Cecile ist eine aufmerksame und sehr charmante Gastgeberin. Nach dem „Bonjour“ bittet sie uns Platz zu nehmen, sie holt ganz schnell Apfelsaft und Mineralwasser aus dem Kühlschrank und stellt ein paar Gläser dazu. Während wir am großen Esstisch die Getränke genießen, kommen wir ins Gespräch und lernen uns ein wenig kennen.
Damit wir alle sie verstehen, wechselt Cecile wie selbstverständlich ins Deutsche. Sie sagt, sie spricht „nur ein bisschen Deutsch“ (bitte denken Sie sich das mit französischem Akzent gesprochen). Alles andere wird auf Französisch oder Englisch erklärt: Was ist in der Wohnung zu beachten? Wo finden wir was?
Es ist alles da. Die vier Schlafzimmer sind groß genug, die Küche ist gut eingerichtet, es gibt eine Spülmaschine und auch eine Waschmaschine. Der Wohnraum wird von der Sonne durchflutet, die raumhohen Fenster lassen viel Licht ins Zimmer. Ein Bad mit Dusche und ein extra WC. Insgesamt 115 Quadratmeter Wohnfläche – ausreichend für uns acht. Ein guter Start.
Cecile ist geschätzt so um die fünfzig. Eher ein bisschen drüber? Ach, ich weiß nicht. Ist schwer zu sagen, da ihre sprühende Lebensfreude, sympathische Offenheit und herzliche Lebendigkeit jede Schätzung schwer machen. Sie erzählt uns, dass ihre Tochter gerade in Deutschland ist. Sie bittet uns, auf den 12 Jahre alten Goldfisch zu achten und ihn morgens und abends ein wenig zu füttern. Noch weiß der Goldfisch nicht, dass wir ihm schon am Abend einen Namen verpassen werden. Da keiner von uns nach dem eigentlichen Namen des Fisches gefragt hat, geben wir ihm einfach einen neuen, einen typisch deutschen: „Wir taufen dich auf den Namen Günther“. (Das mit der Sektflasche bei einer Taufe haben wir aber bleiben lassen. Mit Wasser beträufeln mussten wir ihn ja auch nicht mehr, er war ja schon nass. Gewissermaßen schwamm er in seinem Taufbecken.)
Auch wir stellen unsere Drei-Generationen-Reisegruppe kurz vor. Nach einer halben Stunde netter Unterhaltung, in der Cecile uns auf einer Karte auch ein paar lebensnotwendig wichtige Dinge zeigt, die in der Umgebung liegen (Supermärkte, Bäckereien, Métro-Stationen usw.), verabschiedet sie sich und wünscht uns einen wundervollen Aufenthalt in Paris. Sie stehe für alle Wünsche zur Verfügung, wir sollen sie nur kurz anrufen.
Die ersten Schritte durch „unser“ Quartier: Montmartre
Nachdem alle ihre Koffer ausgepackt haben und genügend ausgeruht sind, wollen wir einen ersten Spaziergang durch „unser“ Quartier machen. Wir wollen wissen, in welcher Umgebung wir unseren Urlaub verbringen. Da es Sonntagnachmittag ist, sind die Straßen recht ruhig. Im Park vor dem Haus spielen Kinder, Erwachsene sitzen auf den schattigen Bänken in der Nähe. „Bonjour Montmartre!“
Montmartre – das Traumziel aller Verliebten aus der ganzen Welt (ähnlich wie Venedig) und der bei Vielen ein bisschen romantisch-verkleisterte Inbegriff eines ungezwungenen und unkonventionellen Künstlerlebens. Unzählige geschichtsträchtige Künstlercafés geben dem auch Recht. Was die vielen sonnenbebrillten Touristen an den kleinen Tischchen bestätigen, die nur mal schnell einen Café au lait trinken wollen und dann mit ihrer Montmartre-Tour weitermachen.
Heutzutage ist der Stadtbezirk vor allem wegen seiner Basilika Sacré-Coeur bekannt. Und dem Künstlermarkt Place du Tertre. Und dann natürlich das am südlichen Ende des Stadtbezirks gelegene berühmte Varieté-Showtheater Moulin Rouge.
Montmartre, die Zuckerbäcker-Kirche Sacré Coeur und „Moulin Rouge“ kennt doch jeder, oder?
Ein kleiner Abstecher in die Geschichte
Bevor wir zu unserer eigenen Exkursion durch den Stadtteil starten, ein kleiner Blick zurück: Montmartre war noch bis Mitte des 19. Jahrhunderts ein Dorf am Rande der Pariser Stadt. Für den Namen des Hügels – die Forscher sind sich da noch nicht ganz einig geworden – gibt es zwei Herleitungen: „Mons Mercore“ (Merkurhügel) oder „Mons Martis“ (Marshügel). Daraus wurde später der Hügel des Martyriums, der „Mons martyrum“.
Wer unglaubliche Geschichten über Wunder mag, der soll hier eine kennenlernen: die des Heiligen Dionysius. Der war um das Jahr 250 der erste Bischof von Paris und wurde auf Befehl des römischen Gouverneurs auf dem Hügel enthauptet. Aber es wäre ja kein Wunder, wenn die Geschichte hier zu Ende wäre. Die Legende berichtet, dass Dionysius auf dem Richtplatz am Montmartre sein abgeschlagenes Haupt aufgehoben hätte, um es in einer nahegelegenen Quelle zu waschen. Dann sei er mit dem Kopf in den Händen einige Kilometer nordwärts bis zu der Stelle gegangen, wo er begraben werden wollte. An diesem Ort wurde im 7. Jahrhundert die nach dem Heiligen benannte Abtei mit der Basilika Saint-Denis gebaut.
Die Geschichte kann man glauben oder nicht. Zumindest ist der heilige Dionysius heute ein Nationalheiliger Frankreichs und Schutzpatron der Stadt Paris. Und falls Sie mal wieder nervige Kopfschmerzen oder andere Seelenleiden plagen, dann können Sie den heiligen Nothelfer anrufen und um Hilfe bitten.
Im 12. Jahrhundert entstand hier in Montmartre dann ein Benediktinerkloster, die heutige Kirche Saint-Pierre de Montmartre, damit eine der ältesten Kirchbauten in Paris. Dreihundert Jahre später wurden die ersten Mühlen gebaut, die den vor Ort gefundenen Gips mahlen sollten. Der Gipsabbau und die -verarbeitung entwickelten sich zum wichtigsten Wirtschaftszweig des Gebiets und blieben es für lange Zeit.
Als zweites wichtiges Ziel für die Pariser entwickelten sich die am Rande der Stadtgrenzen eröffneten Ausflugs- und Vergnügungslokale, Theater und Kabaretts. So auch seit 1889 das eben schon erwähnte Theater mit der roten Mühle, das “Moulin Rouge”.
In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts kam Baron Haussmann mit seinen radikalen Stadtbauideen und riss ganze, noch mittelalterlich geprägte Stadtteile nieder, um moderne Häuser und breite Prachtstraßen, die Boulevards, zu bauen. Hartnäckig hält sich auch die Version, nach der Napoleon III. selbst Haussmann anwies, breite Schneisen ins Stadtgebiet zu schlagen, damit er, aus Angst vor weiteren Unruhen (Stichwort Julirevolution 1830) in Paris, seine Armeen schneller an das gewünschte Ziel bringen konnte. Zumindest entstanden in der Zeit die heute bekannten Stadtstrukturen mit den sie bedingenden und von uns wertgeschätzten Lebensstandards. Die Bevölkerungszahl der Metropole wuchs gewaltig (um 1860 wurden viele umliegende Orte eingemeindet), viele Pariser konnten sich das teure Leben in der Stadt nicht mehr leisten und flohen in die umliegenden Orte, und kamen so auch nach Montmartre.
1871, nach dem Ende des deutsch-französischen Krieges, wurde Montmartre zum Ausgangspunkt und zur Geburtsstätte der Pariser Kommune. Nach der Niederschlagung des revolutionären Pariser Stadtrates beschloss die französische Nationalversammlung 1873 den Bau der Kirche Sacré-Coeur (1919 geweiht), die dem Gedenken an die Opfer des französisch-preußischen Krieges und der „Abbüßung der Verbrechen der Kommunarden“ dienen sollte und sich heute – weithin sichtbar – als Wahrzeichen über Paris erhebt.
Zu diesem Zeitpunkt – 1859 wurde Montmartre eingemeindet – wohnten hier schon über 60.000 Menschen. Trotzdem wurde der ländliche Charakter des Ortes nahezu erhalten. Viele Künstler – Maler, Bildhauer und Schriftsteller – fanden dies reizvoll und zogen hierher: unter anderem Paul Cézanne, Pierre-Auguste Renoir, Vincent Van Gogh, Emile Zola, Henri de Toulouse-Lautrec, Paul Gauguin, später auch Pablo Picasso und Amedeo Modigliani. Montmartre wurde zum „Künstlerviertel“, aber den vielen namhaften Herren werden wir auf unserem Rundgang einige Tage später nochmals begegnen. Die Zuzüge der Künstler hielten bis ins 20. Jahrhundert an. Dann entstand im Stadtteil Montparnasse die Neue Pariser Schule und die Maler und anderen Kunstschaffenden bevorzugten den südlich der Seine gelegenen Stadtbezirk als Wohn- und Arbeitsort.
Montmartre in der Gegenwart
Das „schöne“ Montmartre: Gut sichtbar erhebt sich der 130 Meter hohe Hügel von Montmartre über das Stadtgebiet. Gekrönt mit der darauf erbauten Basilika Sacré-Coeur. Die befindet sich in etwa 1000 Meter Entfernung. Immer wieder mal sehen wir bei unserem Spaziergang die runden, hellen Kuppeln, wenn wir bergauf eine Straße entlang gehen. Drumherum so weltbekannte Sehenswürdigkeiten wie das Vergnügungsviertel rund um den Place Pigalle (laut Bill Ramsey „die große Mausefalle mitten in Paris“), das Kabarett-Theater „Moulin Rouge“, den Künstlermarkt am Place du Tertre und der „Künstlerfriedhof“ Cimetière de Montmartre, dem ältesten der heutigen Pariser Friedhöfe.
Aber hier – knapp einen Kilometer vom touristischen Teil des Stadtbezirks entfernt – entdecken wir die „andere“ Seite Montmartres, die man in keinem Stadtführer findet.
Die unbekannte „andere“ Seite einer Reiseführer-Phantasie
Wir sind von unserer Ferienwohnung aus nur wenige Straßen weit gegangen. Die Wohngegend wirkt ungepflegt und heruntergekommen, die Gehwege sind schmuddelig. Immer wieder stehen alte Schränke, Tische oder anderer Sperrmüll wie Sofas und Waschmaschinen auf dem Gehweg und versperren den Durchgang. Erst Tage später wird uns klar, dass das kein Sperrmüll, sondern die Weitergabe nicht mehr benötigter Einrichtungsgegenstände ist. Denn plötzlich fällt uns auf, dass einzelne „Ausstellungsstücke“ verschwunden sind, andere Dinge aber immer noch da stehen – A&V auf Parisierisch.
Hunderte Menschen, vorwiegend afrikanischer Abstammung, stehen oder sitzen überall auf der Straße, Kinder fahren mit Rollern auf der Straße hin und her. Das alles verunsichert uns ein wenig – entspricht es doch gar nicht dem Bild, das man von Montmartre kennt. Ich nehme mir vor, in den kommenden Tagen mal das Internet und meinen Freund Google danach zu befragen.
Wir gehen weiter, immer auf der Suche nach einem kleinen Restaurant oder einer Bar, wo wir später an diesem Sonntagabend etwas zu essen und trinken bekommen würden. An der nächsten Kreuzung steht ein Mann, vor sich einen Supermarkt-Einkaufswagen. Als wir näher kommen, sehen wir, dass darin ein Eimer mit Grillkohle steht. Er hat Maiskolben auf das darübergelegte Gitter gelegt und verkauft diese. Das sieht zwar ganz lecker aus, aber nach so einem langen Tag ohne nennenswertes Essen reicht uns das als Abendessen nicht aus.
Die kleinen Imbissläden zeigen ihre Gerichte – durchs Schaufenster und auf Tafeln. Da wir diese regionalen Speisen jedoch nicht kennen und auch nicht verstehen, wie diese auf Französisch beschrieben werden, können wir nicht entscheiden, ob sich dahinter wirklich kulinarische Leckerbissen verbergen. Also gehen wir weiter. Obwohl es Sonntag ist, sind viele Läden geöffnet. Vor den Türen stehen die Inhaber und schwatzen lautstark mit den Vorbeikommenden.
Sind wir hier in einem Stadtteil gelandet, der sehr stark von Zuwanderern aller möglichen Nationen bevölkert wird? Es sieht irgendwie so aus und fühlt sich so an: bunte Tücher, fremde Essensdüfte und andere Gerüche. Hinzu kommen fremd klingende Musik und natürlich die Sprache der Bewohner. Direkt im Umfeld unserer Ferienwohnung war dies nicht zu spüren. Hier aber schon. Meinem Bruder rutscht eine eigentlich gar nicht so ernst gemeinte Bemerkung heraus: „Jetzt laufen wir schon eine Stunde durch Paris und wir haben noch keinen einzigen Franzosen gesehen. Dafür haben wir einen Afrika-Urlaub inklusive.“ Er selbst hatte sie wahrscheinlich gleich wieder vergessen, aber ich würde mich wenige Tage später nochmal daran erinnern und darüber nachdenken.
In einer Seitenstraße entdecken wir eine kleine Bäckerei, „Boulangerie“ steht groß über der Tür. Sie ist geöffnet, wollen wir Baguettes kaufen? Aber ohne was drauf ist auch das frischeste Brot nicht so verlockend. Wir werden jedenfalls heute Abend nicht verhungern. Etwas beruhigter gehen wir weiter bergab, überqueren die Gleisanlagen, die zum Gare du Nord führen, und stehen unerwartet auf einer breiten Straße: die Rue Marx Dormoy. Wir glauben uns wieder in einer anderen Welt. Eine Ecke weiter und der Charakter der Straße hat sich schon wieder komplett geändert.
Wir spazieren an vielen geöffneten Läden vorbei, gehen mal hier mal dort rein. Die Speisekarten der Restaurants sind verlockend, die Preise dahinter jedoch nicht so. Ein kleiner Teller mit Tomate und Mozzarella, dazu ein paar Scheiben Baguette im Körbchen für 10,90 Euro? Ein Steak Haché (Hacksteak oder einfacher: eine Boulette) mit Pommes für 19,90 Euro? Allein würde man dem Wunsch vielleicht nachgehen, aber zu acht würden wir da wenigstens 200 bis 250 Euro benötigen. Das erscheint uns für ein einziges Essen zuviel. Mittlerweile ist der Abend angebrochen, der Hunger macht sich jetzt doch bemerkbar. Die Bars sind voll, wir sehen kaum leere Tische. Und wenn man in einer französischen Bar von einem Tisch redet, meint man eher die 30-cm-Variante in der runden Ausführung. Hier gibt es zwar auch kleine Speisen, aber wie sollen wir da zu acht Platz finden?
Ein Stück weiter sehen wir ein M-Schild. Eine Métro-Haltestelle. Unsere kleine Emily war allerdings die erste, die das M-Schild gleich daneben entdeckte. Ein goldenes, geschwungenes M. Und irgendwie gibt uns der Wunsch der Sechsjährigen die Sicherheit, dass wir wissen, was wir heute Abend auf unserem Teller in unserer Hand haben werden. Nicht sehr französisch, aber für den ersten Abend okay für uns. Die Erfahrungen der letzten Stunden haben uns doch ein wenig verunsichert. Wir kennen uns einfach noch nicht gut genug aus hier, und so fällt die Entscheidung etwas leichter.
Auf dem Rückweg in unsere Wohnung landen trotzdem zwei schmale Papiertüten samt Baguettefüllung in unseren Händen – für das morgige Frühstück. Ofenfrisch und lecker knusprig. Aber es duftet so unerhört gut, dass keiner von uns widerstehen kann und sich jeder noch ein Stück Baguette abbricht.
In unserem Ferienquartier angekommen, spielen wir am großen Esstisch noch ein Weilchen unser „Familien-Würfelspiel“. Ich weiß nicht mal, wie es genau heißt, man muss Sechsen und Einsen oder drei gleiche Zahlen würfeln und damit Punkte sammeln. Nebenbei sprechen wir noch über die Pläne für den morgigen Tag und verabreden uns zu um neun Uhr zum gemeinsamen Frühstück. Für heute reicht es, der Kopf hat genug Futter zum Nachdenken.
„Bonne nuit Paris!“
Im Tagebucheintrag des morgigen Tages zeige ich Ihnen, wie Straßenreinigung auf Pariserisch funktioniert.
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