Bevor es weiter geht, ein paar Worte zum Gartenhaus. Mit einem Pott Kaffee im Bauch erzählt sich das schöner. Immerhin scheint hier jeder zu landen, der irgendwie zum Falkenstein will. Darauf sind die Wirtsleute stolz: Ihr Wirtshaus hat Geschichte. Die Asseburger Grafen haben es selbst bauen lassen 1680. 30 Jahre vorher war das Bistum Halberstadt mitsamt Burg Falkenstein an die Preußen gefallen, die damals noch Brandenburger hießen.
So wurden auch die Asseburger preußisch. Und wenn man der flotten Speisekarte glauben darf, kamen sie pünktlich mit der Aufklärung auf die Idee, ihre hübsche Burg touristisch zu vermarkten. Das brauchte ein Wirtshaus, wo die Wanderfreudigen absteigen, schlafen und speisen konnten. “Gasthaus unter den beiden Linden”, hieß es damals. Auch heute ist es noch Restaurant, Café und Pension. Und letzte Instanz, egal, woher man kommt, von unten aus dem Selketal oder vom Falkenstein oder von der Falkensteiner Richtstatt wie unser Leo heute.
Ein Stück weiter ist schon der große Parkplatz für die fußlahmen Reisenden der Neuzeit, ein Glaskästchen für den Tourismusbeauftragten und ein Schild. Eigentlich zwei, ganz groß gemalt für alle, die sich entscheiden wollen. Rechterhand 2 Kilometer zur Burg, linkerhand 2 Kilometer Wanderweg nach Degenershausen.
Da war unser Leo noch nicht. Also nichts wie kopfüber und rein in den Wald.
Wenn nur … aber wo denn? … Wer hat denn? Hier muss es doch! … Oder da vielleicht?
Man sieht einen verwirrten Leo Leu im Wald. Wo der Wanderpfad sein müsste, sieht er – naja – es könnte mal einer gewesen sein. Bevor jemand mit großen Rädern kam und alle kreuz und quer und niederwalzte. So gründlich, dass kein Wg mehr zu ahnen ist. Obwohl er da sein müsste, gemütlich neben der Straße, vielleicht auch schlängelig, was ja egal wäre. Wer wandert, legt nicht viel Wert auf Schnurgeradheit. Aber Weg muss Weg sein. Dass mal eine dicke Reifenspur so einen Weg zermalmt – kein Unglück. Da springt man drüberweg, ist kurz mal ein flottes Reh. Und zupft sich dahinter wieder das Hemde zurecht, damit keiner merkt, dass Herr Leu mal ein Momentchen wieder kindisch war.
Aber hier ist er nun ganz kindisch, hüpft und springt und sucht und klettert, immer die nahe Straße im Augwinkel. Wo die Straße ist, müsste der Weg sein. Vielleicht ist er auch woanders. Das kann passieren. Er hat so manchen Weg schon auf Abwegen ertappt in seinen Wanderkarten. Aber hier kan er ihm nicht ausbüchsen, auch wenn das Gelände immer schlammiger wird. Es muss ein Höllenlärm gewesen sein, als der Wegentferner hier mit seiner großen Maschine zugange war. Aufgehört hat er beim Zerwalzen von Weg und Unterholz erst dort, wo der Wald ins Tal abkippt und matschig wird. Matschig heißt kühl und schattig und feucht, heißt schlipp und schlapp und Wasser in den tiefen Reifenspuren, die sich im schwarzen Schlamm aufzulösen scheinen, als wären lauter kleine Füßchen drübergelaufen.
Und irgendwie riecht es. Und oben am Hang steht tatsächlich eins dieser Häuschen, die sich die Jäger bauen, um nachts unbeobachtet ihr Fläschchen zu trinken und auf das große Grunzen, Grummeln, Rammeln und Matschen zu warten.
Wenn die Wildschweinherde kommt, um sich im Schlamm zu vergnügen.
Und dämmerig ist es schon längst. Vielleicht liegt’s auch an den Bäumen, die hier besonders zerzaust, zerrauft und etwas trübsinnig aussehen. Vielleicht rührt sich auch was hinter der Scheibe im Jägerhochstand. Ein winziges Huschen. Vielleicht auch ein fernes Grunzen. Ein kalter, schlapper, feuchter Lufthauch – und Leo hätte sich selbst mal gern sehen wollen, wie er da ganz und gar zum Reh wurde und den moorig-mosigen Weg hinaufstob, als hätte er Flügel unter en Füßen.
Durch Gesträuch, Geweb und Geknorr, um Biegungen, die es in sich hatten, jeder könnte ein WEg sein, jede eine Falle. Erst als der Waldboden wieder trocken hallt unterseinen Schritten, nimmt der eilende etwas übergewichtige Wandersmann ein wenig Geschwinigkeit raus. Man muss ja nicht so tun, als hätte man Angst im Wald. Und sein Hemd ist bunt, der Jäger hätte doch nicht – oder hätte er doch? Passiert es ncht genauso? Und hinterher erzählt der Lodenmantelträger seinen Waidgenosen, das er den Wandersmann im Dämmerschein mt einem richtigen Wildschwein verwechselte. Kann ja mal vorkommen, prosit die Herren!
Vielleicht hat der Leo da um Haaresbreite nochmal Schwein gehabt. Der Schlammpfad entpuppte sich als Weg. Am Kreuzweg steht eine Schranke. Vielleicht war hier auch mal ein Schild, auf dem in freundlichem Waldbesitzerdeutsch stand: “Wanderer, verpfeif dich!”
Auf Degenershausen hat Leo jetzt keine Lust mehr. Irgendwie war’s ein bisschen warm und zugig im Wald. Ihn fröstelt’s. Und linkerhand geht ein verwucherter Weg zu Tal. Den nimmt er jetzt einfach. Aus langer Wanderzeit weiß er: Wege führen immer wohin, egal, ob was dransteht oder nicht. Man muss sie nur zu Ende laufen. Und zu Tal geht das einfach. Erst recht, als er die leer gekratzten Schilder am nächsten Wegkreuz sieht. Hier hat jemand ganze Arbeit geleistet und den Wanderweg wegradiert.
Ein späterer Wanderer hat dafür mit dickem Marker auf das leere Schild geschrieben: “Meisdorf”. Mit Pfeil in Richtung Tal, wohin Leo nun läuft, leichten Fußes und Lieder summend. Vielleicht ist er der letzte, der hier wandert, weil der Waldbesitzer ein Feind aller Fußläufer ist. Das soll es geben. Vielleicht sitzt der Bursche auch noch auf seinem Hochstand und wartet auf Wildschweine auf vier Beinen.
Mein Wald, mein Schwein, mein Weg.
Den Burschen kan sich meinereiner schon gut vorstellen, wie er mit galliger Miene hinterm Baum hockt und sich ärgert über frei laufende Leos, die sich für Rehe halten. Solche, die Leo freudig aufstöbert, als er so übermütig zu Tale troddelt. Erst knackt’s im Holz. Dann macht’s plopp, plopp. Leo rutscht das Herz ins Hemd. Und dann sieht er sie schon meilenweit weg durch die Bäume preschen: drei elegante Rehe.
Wär ich nicht abgebogen, denkt sich Leo.
Und: Hah!
Der Weg, das sei noch verraten, kam tatsächlich da heraus, wo alle Wanderkarten es verhießen. Nur dass hier alles wüst war und die Schilder gänzlich verschwunden. Die traurige Frau am Kiosk weiß von nichts, erinnert sich nur vage. Bei ihr kehren die Leute ein, die große schwere Maschinen fahren. Seltener so ein mit Blättern und Nadeln gespickter Held der Wildnis wie Leo. “Ein kleines”, fragt sie ein bisschen feierabendmüde. – “Ein Großes”, sagt Leo. “Das hab ich mir verdient.” Aber das versteht sie nicht.
Die neunte Karte:
“Mein liebes Kitz, mein fernes,
ich bin heil wieder heraus aus dem Wald. Beinah wäre ich ein Schweinebraten gewesen, aber der Herr mit dem Jagdgewehr hat mich verschont. Ließ mich laufen. Und ich lief flott. Ein Wiesel ist nichts dagegen. Aber morgen will ich rauskriegen, ob ich recht hab: ‘Das flimmert und flammert so traurig …’ Das spukt mir im Kopf. Aber wenn ich recht hab, dann erwartet mich da hinten hinter dem Berg ein Herr namens Münchhausen. Zumindest, wenn meine Karten nicht schwindeln. Aber Karten, das weiß ich ja nun, sind verlässlicher als Waldbesitzer. Misstraue den Schildern, sag ich ja immer. Egal, wie groß sie sind.
Morgen also mit Kanonenkugel, wenn alles klappt.
Mit innigstem Rabauz, Dein Leo.”
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