Sind Sie schon einmal durch die Friederikenstraße in Dölitz gelaufen? - Es ist eine der runzligsten Straßen in Leipzig. Das Pflaster holperig, die Gehwege schmal. Alles ein bisschen unfertig - mal Wiese, mal Garten, mal ein paar sanierte Häuser, dann wieder ein Haus für den Abriss. So etwas hab ich natürlich nicht erwartet, als ich so beschwingt von der Burg Anhalt kam und durch Wiese und hübsches Gewäld Richtung Friederikenstraße zog. Denn hier gibt es auch eine.

Und wenn man so vom Forsthaus Wilhelmshof kommt, denkt man noch: bisschen holperig, bisschen runzelig. Fast wie daheim. Nur Häuser fehlen natürlich. Straßenschilder auch. Und auch auf den Wanderhinweistafeln fehlt der Name. Und das wohl aus gutem Grund. Denn diese Friederikenstraße ist zwar 8 Kilometer lang und führt schnurgerade durch Forst und Tann. Aber sie ist ein Holzweg. Ein echter, wie man ihn sich nicht vorstellt, wenn man so heiteren Schrittes und fröhlichen Herzens daherkommt.

Deswegen empfiehlt mein Wanderführer die Friederikenstraße auch mit keinem Wort. Vielleicht hat er’s früher mal getan, als Holzwege noch echte Holzwege waren mit tiefen Schlammspuren und einem schmalen Pfad für die Wanderer. Heutzutage sind Holzwege breite Schneisen aus Split, da und dort mit Schlaglöchern, die Leipzig alle Ehre machen würden. Nur wohnen keine Frösche und Libellen drin. Es sind langweilig Schlammtümpel. Denn hier scheint es für gewöhnlich hoch her zu gehen mit schweren Lastern und Traktoren. Aller 500 Meter liegt dann auch das Holz, fertig zum Abgeholtwerden.

Wer will, kann mitzählen. Nach zehn Stapeln kommt das Forsthaus Rauholz. Das steht sogar dran, als hätte man früher hier mal im Schweiße seines Wanderns ein kühles Bierchen bekommen. Oder wenigstens eine Schmalzstulle. Doch Leo muss hier nur springenden Fußes beiseite weichen, denn der Förster kurvt grimmigen Gesichtes durch seine schönen Straßenpfühle. Geländegängig natürlich. Da stört ein Wandersmann, der doch nur kürzesten Weges hinüber wollte zur nächsten Attraktion. Vielleicht den alten Falkenstein besuchen.

Aber die Lust ist ihm nach 6 Kilometern Split und Pfuhl und Split und Delle vergangen. Ein Schild gibt es auch nicht. Ein Pfeil weist zur Köhlerhütte, die hier steht, als hätte sie die Zeit verpasst. Heutzutage köhlert keiner mehr. Die Stämme werden zersägt und in modernen Kaminen verfeuert. Manche Leute finden das gemütlich. Aber gemütlich ist dem Leo heute nichts mehr. Selbst die Flugzeuge nicht, die über ihn hinwegdröhnen, als wäre hier die Einflugschneise von Leipzig. Vielleicht liegt die Friederikenstraße tatsächlich in der Flugschneise von Frankfurt nach Leipzig oder von Hinterposemuckel nach Dresden. Das sieht man den Flugzeugen nicht an, die also auch den Harz verlärmen, als wäre das normal.

Vielleicht hat meinereiner mit wund gelaufenen Sohlen jetzt nur noch schlechte Laune. Den alten Falkenstein lasse ich sein, wo er ist, Pansfelde auch. Nach einem musizierenden Pan ist mir wirklich nicht. Seit dem Rauhen Holz denke ich nur noch an mein Bierchen und an die Strafe für die falsche Abkürzung: So gerät man auf den Holzweg.

Und die modernen Holzwege, das hat Leo nun lebendigen Leibes gelernt, sind schlimmer als die alten. Er fühlt sich ein bisschen wie Charlie Chaplin im Räderwerk der Maschine. Gleich wird er ausgespuckt. Auch wenn er eher taumelt als schleicht, eher wankt als wandelt. So landet er auf der Richtstatt.

Es steht auch dran geschrieben. Und die beiden runzligen Eichen sind unübersehbar. Sie sind der Rest eine Dings. Nicht Thing, sondern Ding. So hieß das noch 1716, als die Grafen von Asseburg hier ihren Dingplatz einrichteten. Was unsereiner auch nicht wusste: Gerichtsverhandlungen fanden damals unter freiem Himmel statt. Der liebe Gott musste zuschauen und ein Auge drauf haben, was die Herren an Recht sprachen. Denn Richter waren die Herren des Landes, in diesem Fall die Asseburger, die von den Halberstädter Bischöfen den Falkenstein bekommen hatten. Und die hatten ihn von den Falkensteinern.

Es gibt auch Bücher, in denen es anders steht: Schmeißen Sie sie weg.

Die Leute, die zum Ding kamen, um ihre Streitigkeiten verhandeln zu lassen, mussten also steile Wege steigen und lange laufen. Nicht lang genug, fanden seinerzeit die Anhalter – und sägten den Asseburgern den Schnellgalgen um. Zwei Mal. Beim dritten Mal machten sie Kleinholz daraus. Sie fanden, das scheußliche Ding stand zu nah an ihrer Grenze.

Die war freilich nirgendwo auf der ganzen Friederikenstraße zu sehen. Bei so einem Gesplitte und Gewühle überlebt kein Grenzstein. Aber irgendwo zwischen der Burg Anhalt und diesen zwei uralten Eichen (300 Jahre alt müssen sie ja sein – zwei weitere Exemplare wurden schon Opfer der Vergänglichkeit) muss die Grenze gewesen sein. Vielleicht bei den vielen Löchern in der Straße, wo der Förster so grimmig dreinschaute.

Ein Blick ins Wanderbuch: Es bestätigt Leos Verdacht. Und das Rauholz war tatsächlich mal eine Kneipe für müde Reisende – ein Chausseehaus. Wo man früher dereinst seinen Wegzoll bezahlte. Und bestimmt auch ein Bierchen kaufen konnte – ein preußisches oder eins aus Bernburg. Aber nach Chaussee sieht die Friederikenstraße nicht mehr aus – es ist ein großer Klumpatsch.

Einen Namen notiert sich Leo noch. Er hat da so einen Verdacht: Elisabeth Voigtländer aus Molmerswende, als Kindsmörderin zum Tode verurteilt. Da war doch so eine Geschichte, gar schaurig … Da muss er noch einmal nachschauen. Er hat ja nicht seine ganze Bibliothek im Rucksack. Nur noch ein halbes Brötchen und eine leere Mostflasche. Es wird höchste Zeit, dass er ein zivilisiertes Plätzchen findet. Gefunden hat er es eigentlich schon. Denn gleich hinter der Gerichtsstätte “Schwarze Eiche” ist der Kreuzweg. Ob sie hier die Armesünderlein gleich begraben haben, steht nicht dran. Aber nach rechts geht der Weg nach Pansfelde (was Leos Verdacht verstärkt), links der zum Falkenstein. Und geradeaus geht es zum Rettungsanker aller Hungrigen und Dürstenden: zum “Gartenhaus”. Der letzten Einkehr für alle, die sich an geschlossenen Gast- und Chausseehäusern hungrig geschaut haben.

Hier ist geöffnet und das Personal familiär. Heißt für Leo: Er braucht sich nur ein Plätzchen unterm Schirm zu suchen und “Achje!” zu sagen, schon kommt die fesche Bedienung …

“Leo!”

Jetzt hat er einfach nur Durst wie ein Forstpferd.

“Ein Kleines”, fragt die junge Dame? – “Ein großes”, sagt Leo. Jetzt ist er gerettet. Und bittet seiner liebsten, fernsten Bäckerin nichts ab. Schreibt lieber seine achte Karte:

“Liebes Rehlein,

sei froh, dass du heute nicht mit musstest auf Leos längste Durststrecke. Aber mir geht jetzt so ein ulkiger Vers im Kopf herum. Ich weiß nur noch nicht, woher: ‘Es schleicht ein Flämmchen am Unkenteich, Das flimmert und flammert so traurig …’ – Das Flämmchen bin natürlich nicht ich. Mir geht’s wieder mordsfidel. Ich hab mein Bierchen. Und der Pott Kaffee kommt gleich. Und jetzt geht’s nur noch bergab bis zu meinem Strohsack. Dann schlaf ich wie ein Bär.

Dein Leo, der Müde.”

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