Wenn Leo seine Schleifen zieht, dann kommt er auch gern mal wieder auf bekannte Wege. Könnte ja sein, es hat sich was getan seit gestern - der Wirt ist zurückgekehrt und hat seinen Kiosk an der Selkemühle wieder aufgemacht, ein bisschen schmollend, weil die wartenden Scharen vorm Schalterfenster keine gebratenen Wildschweine wollen, sondern lieber Brause, Bemmchen und ein Scheelchen Heeßen. Aber nö, die Klappe bleibt zu.
Und so merkt sich der Wandersmann: Ins Selketal nie ohne Marschverpflegung – heute Eierpfläumchen, ein knackiger Apfel, eine Tüte Most. Und ein Schwung Bergsteigerlust. Auch wenn’s nicht so aussieht. Wer raus will aus dem Tal, der muss Lust auf Schweiß und Seitenstechen haben. Das Ziel ist immer oben, heute auf 398 Meter, 150 Meter auf einem Weg in die Höh, den der Wegweiser dem kühnen Wanderer zur Wahl stellt: den bequemen Weg links? oder den Hohlweg rechts? – Hohlweg heißen die Dinger, wenn man sieht, dass hier Jahrhunderte lang die Schlepper, Klepper und Esel hinaufstiegen, schwer bepackt mit allem, was man oben brauchen könnte.
Heut ist Leo wieder ein Esel: Ab durch den Hohlweg. Unter Ahornen, Eichen und anderen Vegetabilien. Unten im Tal stand’s noch dran an den Bäumen, wie sie unter Fachleuten heißen. Wer will, kann im Tal bleiben und Bäume auswendig lernen. Wer Mumm hat, folgt Leo auf kühne Berge. Denn oben wartet – ein kühner Wall kündet es an – eine Burg. Auf 398 ü. N.N. erfährt meinereins endlich, warum dieses schräge Bindestrich-Land so heißt, wie es heißt: Anhalt.
Und wir begegnen zwei Burschen, denen ich in Ballenstedt schon begegnet wär, hätte ich einen Abstecher gemacht zum Schloss: dem legendären Esico, der hier bis 1123 die erste Burg baute. Und Albrecht dem Bären, dem späteren Gründer Brandenburgs. 1138 / 1139, als ihm seine Burgen – die Bernburg auch – abgefackelt wurden, trug er den Titel Herzog von Sachsen, den er sich nicht ganz ehrlich hatte zuschanzen lassen. 1142 wurde er ihn wieder los und fortan gehörte Sachsen den Welfen. Bis heute.
Aber was macht man mit einer Burg, die sich so leicht abfackeln lässt? Man baut sie aus Steinen wieder auf. Was in Albrechts Zeit durchaus etwas Ungewöhnliches war. Die üblichen Burgen waren aus Holz. Albrecht nahm sich ein Vorbild an den Italienern, die schon ein paar Jahrhunderte Erfahrung hatten mit dem Abfackeln von Burgen, und baute seine Burg nun aus Ziegelsteinen, ohne Holz. Auf mittelhochdeutsch: Aneholt.
Und sowas hält, auch wenn die Burg heute Ruine ist. Hinter dem Burggraben läuft man gleich über Ziegelschutt. Die Reste der Ringmauern sind das. Natürlich grübelt man da: Geht man so mit seiner Stammburg um? – Schon im 14. Jahrhundert sind die Anhalter ausgezogen. Vielleicht war es ihnen zu kalt. Und zu zugig. Wer glaubt, alte Burgen waren gemütlich, der kann hier lesen, wie’s war. In aller Ruhe. Ein Touristenmekka sieht anders aus. Man läuft durch den alten Zwinger bis zum großen Tor. Das ist nicht zu übersehen. Nicht nur Ziegel liegen da, sondern richtige Klumpen aus Ziegel und Zement. Es gab also auch zu Albrecht’s Zeiten Baumeister, die gern mal ‘ne Kelle mehr verbauten, Hauptsache, der Bembel hielt. Ein großes Loch könnte der Torhof gewesen sein. Daneben die Burgkapelle. Ein paar fleißige Leute haben drei Bänke hingebaut und einen Steinaltar: eine Gedächtnisstätte für die alte Kapelle.
Daneben steht ein dicker Bär. Da staunt der Leo: ein Kunstobjekt. Stünden keine Tafeln herum im Burggelände, der Bär hätte ihm verraten, wo er hier ist. Auch wenn der Bär eigentlich nicht zum Burginventar gehört, sondern der Rest eines alten Baumes ist, der mal zwischen dem Ziegelschutt des Burgtores wuchs. Als er gekürzt werden musste, kam ein Bursche namens Bernd Winter aus Thale mit seiner Kettensäge – und fräste einen Bären aus dem Stamm. (Weiter hinten übrigens auch noch einen bärtigen Kerl, eine Art Burggeist …)
Auf einem Schildchen steht’s zu lesen. Damit jeder, der grad mal wieder einen Baum zu kürzen gedenkt, weiß, wo er anrufen kann. Dann zaubert Bernd mit seiner Säge was Schönes aus dem Rest. Einen Bären zum Beispiel, auch wenn es der falsche ist – nämlich der Bärliner Bär und nicht der Bärnburger. Der Letztere läuft nämlich auf vier Pfoten. Der erste steht aufrecht. Dieser hier auch.
Aber wenn einer noch nicht überzeugt ist, klettert er noch ein Stückchen weiter. Oben gibt’s einen Ausguck mit Bänken. Die frei wären, säßen nicht Leute drauf, die mit Inbrunst den fernen Ramberg bewundern.
“Tachchen auch!”
“Guten Tag. – Tag.”
Oh. Leo ist wieder einmal in ein ernsthaftes Partnerschaftsvergnügen geraten. Da ist er lieber mucksmäuschen und bewundert das bunte Vogelhäuschen, das da steht, unübersehbar. Vielleicht ist es auch keins. Vielleicht ist es auch eine bunte Boje. Oder eine Kuckucksuhr. Jedenfalls steht es hier in Landesfarben wie eine Pinnadel: Hier an dieser Stelle bekam das Land Anhalt seinen Namen.
Wenn ich also diesen bunten Wappenpfahl einfach einsacke – dann müssen die Anhalter sich einen neuen Namen suchen, oder?
Ich sacke nichts ein. Ich freu mich. Das kann nicht jedes Völkchen von sich sagen, dass es weiß, wo es her kommt. Die Anhalter können es, auch wenn sie ihre Burg ein bisschen haben verlottern lassen. Vom Bergfried seht noch ein Steinstumpf da mit kleiner, romantischer Pforte. Drinnen sieht man unbehelligt drei Büsche grünen. Oben ist Himmel. Früher mal war der Fried 27 Meter hoch. Und lugte, wie es sich gehörte, ins Land. Denn auch Esico und Albrecht bauten wohl nicht zum Spaß im tiefen Wald ihre Burg. Ist nur die Frage: Was hat sie bewacht?
Die Selkemühle im Tal, die eine Ölmühle war? – Möglich, sagt einer der Tafeln, die den Ruinenbesucher hier klüger machen. Die Ölsaaten wurden aus Ballenstedt, das ja auch den Herren Esico und Albrecht gehörte – herübergebracht. Der Boden, so steht zu lesen, ist um Ballenstedt besonders gut geeignet für Ölsaaten. Und die Straße, über die augenscheinlich die Karren hin und her fuhren, ist die Leimuferstraße seligen Gedenkens. Leos Füße tun noch immer weh von dem 900 Jahre alten Pflaster.
Ein Dorf Anhalt gab es auch. “500 Meter Richtung Harzgerode”, sagt das Schild. Also quer durch den Wald, über Stock und Stein. Die Spuren der Kirche sollen dort noch zu sehen sein. Die Glocken haben sich die Harzgeröder geholt. Da spart sich Leo lieber den Weg.
Hinterm Bergfried klaffen ebenfalls Löcher. Eins soll mal die Burgküche gewesen sein, eins der Palas der Burg. Klingt majestätisch. Aber was lehrt uns die Tafel? – Der Palas hatte zwar schöne romanische Fenster (ohne “t”), aber keine Fensterscheiben. Man konnte nur im Sommer drin wohnen. Wenn’s kalt war, zog man sich in die wenigen – mit Holz – beheizbaren Räume zurück.
Mächtig gewaltig. Fast wäre Leo besoffen geworden von so viel Weisheit. Aber glücklicherweise klickt und blitzt ein forscher Bursche in Tarnfarben vorbei. Fotografiert den Burggeist, die Küche, den Palas, die Burgtoilette (die es natürlich nicht gibt – aber wer sagt das den bedürftigen Zeitgenossen?), den Bergfried, den Bergfried, das Pärchen am Ausguck, die Aussicht, die schöne. Wer heutzutage schon mal in Parforce eine Burg besucht, bannt alles auf Karte. Angucken kann man es sich ja zu Hause. Zeit ist Fersengeld. Leo sagt dem Bären Adieu und maust beim Abstieg, wo keiner guckt, schnell noch ein Stück Burg: ein 900 Jahre altes Stück Ziegel, das in die Westentasche passt und mit dem er seiner schönen Bäckerin daheim beweisen kann, dass er da war.
An der Zugbrücke (leider derzeit zur Restauration in den Theaterwerkstätten), wamst er sich noch den Wandernadelstempel ins Buch: Wenn man schon mal hier ist, kann man auch Stempeln. Und der jungen Dame mit dem gewaltigen Rucksack am Tor verraten, dass es noch dauert, bis ihr getarnter Begleiter wiederkommt. Man hört ihn oben auf der Burg freudig juchzen bei jedem neuen Bild.
Wer’s wissen will: Die Burg Anhalt hat die Nummer 197 auf meinem Wanderstempel. Die Burg Falkenstein war die 200, was man aber nicht lesen kann, weil der dortige Stempel so völlig leergestempelt war.
Wohin nun? Wieder ins Tal oder nach Harzgerode? – Oder direktemang auf die nächste Trift?
Die siebente Karte:
“Mein liebstes Schätzchen daheim.
ich hab den Burgschatz leider nicht gefunden (es waren Leute auf der Burg, die mich argwöhnisch musterten), den Brunnen, in dem er liegen soll, auch nicht. Aber ich hab ja dich, hoff ich jedenfalls. Man wird so sehnsüchtig beim Wandern. – Hätte ich dich auch am Burgtor abgestellt? Bestimmt nicht. Ich hätt dich huckepack auf den Turm getragen. Und wieder runter. Wie’s dir gefällt.
Und mir. Deinem Leo.”
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