Leben Sie noch, Herr Leu? Wie geht es Ihnen? Kann man Ihnen helfen? - Nönö. Es geht schon. - Leo hatte Glück. Er hat sich gestärkt, bevor er den Lumpenstieg erstieg. Wären hier die Lumpen dereinst von Preußen nach Anhalt geflüchtet, er hätte es verstanden. So stellt man sich Fluchtwege vor: steil, schief und krumm. Man sieht die Lumpen geradezu, wie sie hoppeln und springen und hechten. So wie Leo.
Der 100 Meter höher (oder waren’s mehr?) tapfer einen Pfahl umarmt, der zu Tale weist. Er hat sich also nicht verlaufen und ist auch nicht in einem wilden Berggerinne gelandet. Was da so steil den Berg hinauftorkelte, war wirklich der Lumpenstieg. Nur hat’s mit flüchtigen Lumpen aus Preußen nichts zu tun. Dafür viel mit der Thalmühle, denn das war früher mal, als im Selketal die Mühlen klapperten, eine Papiermühle. Und aus Ballenstedt schleppten die Leute die Lumpen, die man zum Papiermachen brauchte, den Berg hinauf und den Lumpenstieg hinunter. Und wenn man es recht bedenkt: Die Arbeit hätte auch Leo nicht gern gemacht.
Ob Ballenstedt nun nach den Lumpenballen so heißt, hat er noch nicht herausgefunden. Wird er wohl auch nicht mehr, Denn sein Ziel ist heute nicht Ballenstedt, sondern die Meisdorfer Trift. Der Lumpenstieg führt direktemang hin. Und der Wanderführer empfiehlt: Wenn Sie sich verlaufen haben sollten, suchen sie den Weg zur Meisdorfer Trift. Die ist breit und nicht zu verfehlen. Und warum sie breit ist, riecht man schon, denn sie riecht nach frisch geschlagenem Holz. Dazu ist sie da, auch wenn es das Schild an der Schutzhütte nicht erklärt: Eine Trift ist ein echter Holzweg. Hier werden die Stämme gesammelt, gestapelt und dann abgeholt.
Das braucht einen breiten Weg. Den kann man nicht verfehlen. So breit, dass auch die Sonne Platz hat und die Holzstapel wärmt. Und die summsenden Rasenstücke rechts und links. Und die seltsamen Hügel unter den Bäumen. Wo es krabbelt und schleppt. Leo ist im Reich der Waldameisen gelandet. Über den ersten Hügel staunt er noch. Der reicht ihm bis über den Kopf. – Naja, wenn Leo sein Rastplätzchen im warmen Gras verlässt, reicht ihm der Hügel noch bis zum Bauch. Und wenn’s zwickt in der Hose, dann hat er zu nah am Hügel ein Päuschen gemacht.
Es zwickt in der Hose. “Autsch!”
Zwei Hügel zählt Leo, drei. Bei acht sagt er sich: Olala! Hier möchte ich kein gefundenes Fressen sein. – Bei elf beginnt er zu staunen. Ein einziges Gewimmel unter den Zweigen. Es sieht aus wie in Leipzig auf der Grimmaischen Straße. Von oben gesehen. Jeder schleppt was weg, aber man erkennt kein System. Einer hier hin, einer da hin. Da schnell mal rein und da mal geguckt. Und trotzdem gibt es keinen Stau, keine Schlangen, auch keine schwatzenden Häuflein. Auch keine Kundgebung: “Ameisen! Wir wollen nicht länger schuften! Reiht euch ein!”
Sie reihen sich nicht ein. Sie sind wie Leo. Jeder kennt seinen Weg. Auch wenn vielleicht nicht jeder weiß, was am Ende lauert. Weiß es Leo? – Es ist ihm egal. Er sagt noch mal “Autsch!” und springt weiter. Denn die Meisdorfer Trift ist nicht nur als Holzweg bekannt. Wer aufmerksam ist, sieht bald den ersten verwitterten Stein im Gras. Nichts zu erkennen zwar, nur eine Schnauze oder ein Hinterteil. Und eine schiefe Zahl: 1758.
Das kennt Leo noch aus früheren Forstrevieren, in denen er wanderte: So sieht ein Grenzstein aus. Hier ist die Grenze. Zwischen Preußen (unten im Tal) und Anhalt (rüber nach Ballenstedt, der “Wiege Anhalts”). Das war wohl 900 Jahre lang so. Und eigentlich egal, den Lumpen sowieso. Nur den Herren und Jägermeistern nicht. Denn das Wertvollste im Wald war nicht das Holz, sondern das Wild. Hier wurde gejagt, was der Sauspieß hergab. Aber wie Herren so sind: Mein Wild ist mein Wild, und deins hab ich gar nicht angefasst. – Sie müssen sich heftig gebalgt haben dermaleinst. Und so findet Leo hier auf der Trift die Erklärung für alles, was heute Grenze heißt. Grenzen wurden erfunden, damit die großen Jägermeister wussten, wo Schluss ist mit ihrem Jagdrecht. Hier nämlich, wo der Stein steht.
Niemand hat die Absicht. Haha.
Die ältesten Grenzsteine sollen hier von 1716 stammen. So alte findet Leo nicht beim Schreiten und Zählen: Grenzsteine und Ameisenhügel. 24 Ameisenhügel hat er schon gezählt. Alle auf Anhalter Seite, der mit dem preußischen Adler. Was nur seltsam ist, wenn man die Systematik noch nicht kennt: Das Wappentier zeigt immer zur Seite der Herrschaft, die hier endet. Die preußischen Adler sind also auf Anhalter Seite. Das ist hier auf der Trift eindeutig die Sonnenseite. Da wuselt es und baut. Eigentlich ist Leo sogar schon bei Vierundzwanzigeinhalb. Denn ein ganz kleiner Hügel war auch dabei. Auch Ameisenhügel haben ein Babystadium.
Nach fünf Grenzsteinen weiß er auch, was drauf zu sehen sein soll: ein Geier und ein Bär. Der laufende Bär von Albrecht dem Bären. Und der preußische Geier, der ein Adler ist. Den Adler sieht er rechts auf der Sonnenseite, den Bären (oder manchmal nur sein Hinterteil) sieht Leo links.
Dazwischen auch mal einen kleinen Stein, ganz schwarz und verschämt. Und am Ende der Trift, wo sie beinah schon wieder Bauernwiese ist, die Erklärung – samt vier Eichen, die dastehen, als hätte sie einer im Spalier gepflanzt. Hat sie auch: Die vier Eichen stehen unter Kulturschutz. Es sind die letzten hier sichtbaren Grenzbäume, aus der Zeit, als die Menschen noch dachten, Bäume werden hornalt und wären gute Grenzmarkierungen. Das hat nicht lange funktioniert, weswegen sich die Preußen und die Anhalter dann darauf einigten, die Grenzbäume alle zu fällen und zu verkaufen – was eigentlich ein Verbrechen war – aber nur, wenn’s nur einer gemacht hat. Wenn zwei sich einig waren, konnten sie für das Geld richtige Grenzsteine kaufen. Die hielten etwas länger.
Wie sie nach 300 Jahren aussehen, kann jeder begutachten, der noch welche findet. Leo hat fünf gefunden. Von früher mal 151. Dafür ist er bei den Ameisenhügeln bei 35 angelangt. 35 und ein halber.
Und er hat unterwegs seine zweite Burg gefunden, weil er – als der Leser noch glaubte, Leo beim Begutachten von Ameisenhügeln bewundern zu dürfen – einfach abgeschwirrt ist ins Unterholz. Ins Anhalter Unterholz, wo es kühl ist und schattig und der letzte lila Fingerhut des Sommers steht. Neben einem Ameisenhügel natürlich. 36.
Und ein Stück weiter hängt das Schild, das dem flüchtigen Wanderer erklärt, was er sieht, wenn er’s nicht sieht, wenn er hier steht: einen Burgwall. Hier im Dickicht türmt sich die Akkeburg, auch wenn kein Mensch mehr weiß, wer dieser Akke war. Und wie sie aussah. Auch die Bodenschatzkundler wissen es nicht. Sie haben gesucht und nichts gefunden, nur die gewaltigen Bodenwälle. Was sie vermuten lässt, dass die Akkeburg mal eine Fluchtburg war. Von denen es am Harz viel mehr gibt als Ritterburgen. In Fluchtburgen flohen die Dorfbewohner (siehe: Meisdorf) mit ihrem Viel, um es vor den räubernden Rittern zu schützen.
Waffen und dergleichen hat man in der Akkeburg auch nicht gefunden, so dass sie wohl auch nicht geplündert wurde. Vielleicht lag sie zu gut versteckt und die räuberischen Horden haben sie nicht gefunden.
Meinereiner hat sie ja auch nur gefunden, weil keiner das Schild geklaut hat: Hier lang zur Akkeburg.
Eigentlich könnte man von hier den Falkenstein sehen. Aber das verhindern lauter Bäume.
Grämt sich der Leo da? – Keinsbisschen. Denn er hat ja ein Ziel vor den Augen: noch eine Burg, seine dritte. Da kennt er nichts. – “Autsch!” – Fünf Ameisenhügel später, hat er sich vorgenommen, macht er noch mal Pause. Aber dann. Dann wird ein Versprechen eingelöst. Denn diese Burg hat’s in sich.
Die sechste Karte:
“Meine liebe Ameise,
heut hab ich immerzu an dich gedacht. Ich sah dich im Traum beim Wuseln und Schaffen und Eilen. Mir wurde ganz warm im Bauch: Dass du so ein fleißiges Bienchen bist, hab ich immer geliebt an dir. Und lieb es immer mehr, je weiter ich herumkomm in der Welt. Auch wenn ich manchmal ein Lump bin – aber wenigstens einer, der dich liebt wie einen Himmel voller Schäfchenwolken, einen frischen Apfel im Rucksack, ein Wiese voller Schmetterlinge.
Jetzt musst du einen Schluckauf haben, denn der hier denkt voller Fernweh an dich,
der Leo, noch immer dein Lump.”
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