Folge dem Bachlauf, war die Parole. Leo folgte dem Bach, oder dem, was ein paar durstige Kühe davon übrig gelassen hatten. Und er folgte dem Bach in den Wald, wo er den Holzweg fand, den versprochenen. Einen richtigen, mit grünem Gras in der Mitte und tiefen Fahrspuren rechts und links. War nur zu klären: Führt er zum Ziel? Oder hat auch hier der Lügenbaron seine Streiche ausgeheckt? - Hat er nicht. Leo darf aufatmen.

Denn der Weg führt ihn tatsächlich mitten in einen Park. Hier haben unübersehbar fleißige Hände aus waldiger Wildnis ein Stück Zivilisation gemacht – mit geschorenem Rasen, eingehegten Beeten, gestutzten Bäumen und einem Weiher mit Bänken. Er hat – durch die Hinterpforte – tatsächlich den Landschaftspark Degenershausen erreicht. Glatt geharkte Wege schlängeln sich. Ein Obelisk steht im Grün. Ein Park wie ein Hochzeitsgeschenk – mitten im Wald.

Und es war auch eins. Der Amtmann Johann Christian Degener aus Braunschweig kaufte 1834 dieses Stück Wald und verwandelte es in einen Park, den er seiner Tochter Amalie zur Hochzeit schenkte. Welcher Vater kommt schon auf so eine Idee? So etwas Romantisches?

1835 ließ er noch ein Gutshaus bauen. Doch das sieht Leo nicht, so sehr er auch sucht. Nur Gurkenmagnolien, Tulpenbaum und Rosskastanie. Ein weit offenes Tor, als müsste dahinter ein Schlösschen liegen. Liegt aber nicht. Dafür stehen Stühle und Bänke im Gras wie für eine Freiluftschule. Nur der Lehrer fehlt. Was Leo eh nicht lockt. Was will er jetzt noch lernen? Sein Kopf ist schwer vom Wandern. Die Augen aber sehen – bunt. Lauter Bunt, als hätte jemand einen ganzen Spielzeugkasten ausgekippt. Doch je näher der neugierige Wanderer kommt, um so schöner wird das Bunt, umso filigraner. Blume steht an Blume. Und zwar nicht das übliche Gewächs – immerhin hat Leo ja auch diverse Burg- und Kloster- und Bauerngärtchen gesehen unterwegs, einige so üppig wie ein Hochzeitsbuffet.

Aber das hier sieht wie echtes Gewächs aus: Kornblume, Mohnblume, gelbes, weißes, rotes Gespinst, wie es unterwegs da und dort an den Feldrainen wuchs. Hier wächst es dicht beieinander. So schön kann Unkraut aussehen, wenn man es hegt und pflegt. Die emsigen Gärtner haben das große, bunte Beet ihren Staudengarten genannt. Und ein Stück Mauer gebaut aus Lehm und Balken und Stroh. Mit Fenster drin, um von draußen nach draußen zu schauen.Und auch das erklären sie. Denn es steht als ein Stück Erinnerung da an das Gutshaus des Johann Christian Degener, an dem er und seine Nachfahren emsig bauten, bis sie enteignet wurden und Gutshaus und Park volkseigen wurden, wie das damals so hieß. Das Volk durfte staunen und auch eine Zeitlang das barocke Gutshaus als Schule benutzen.

Vielleicht gefiel es den Schülern zu gut. Wer kann schon mit so einem Schulhof direkt vor der Nase lernen? Da geht man doch schon allein wegen der Pausen gern zur Schule.

Das neideten dann wohl die Herren Genossen in Halle – quartierten die Schule kurzerhand aus und sich selber ein. Oder wollten es. Denn sie wollten das idyllisch gelegene Haus zum Ruhesitz ihrer Genossen Greise machen. Zur Erholung vom verschärften Klassenkampf. Was aber nie geschah. Denn wie alle Welt weiß, regieren Genossen, bis sie vom Rednerpult kippen. Degeners Haus wurde also keine kommunistische Abendröte. Aber zurückgegeben haben die Genossen die Immobilie auch nicht. Stattdessen ließen sie die Bagger anrücken und rissen das Gebäude ab.

Nach dem großen Holterdipolter bekam die Gemeinde Meisdorf dann zwar die einstige Schule nicht wieder, aber dafür den Park, den in den letzten Jahren ein eifriger Förderverein wieder zu bezaubernder Schönheit brachte. Samt Staudenbeet und Obelisk und Parkscheune. Wo man auch fragen kann, wenn man was wissen will zu diesem beeindruckenden Stück Landschaftsgärtnerei mitten im Wald.Was macht Leo? – Er riecht was. Denn gleich über die Straße steht wieder eins dieser vielen Forsthäuser, die heute etwas anderes sind. Dieses hier ist ein Café. Für freundliche Gäste auch mal ein paar Minütchen früher geöffnet. Den Pott Kaffee so sicher wie das Stück frischen Pflaumenkuchen.

Es ist Zwetschgenzeit. Dumm nur: Mit den Pflaumenkuchen geht immer der Sommer zu Ende. Und damit auch die sonnige Zeit auf den Wegen im Wald. Der letzte Weg, der mich wieder ins Tal bringt, ist der Postweg. Man kann sich ganz gut vorstellen, wie hier der Gelbe Wagen hoch und runter schaukelte und der Postillon sich an seinem Kutschbock festhielt oder die Pferde zurückhielt. Auch wenn keine Abgründe lauerten. Es ist ein braves Stück Wald. Mit allerlei Flatterzeugs und buntem Geblüh. Und unten – hinter einer großen Apfelplantage – soll sich der Wandersmann auch noch eine Alte Ziegelei beschauen. Wahlweise – den nächsten Hügel hinauf – die Alte Burg.

Aber Burgen habe ich für dieses Jahr genug gesehen. Die spar ich mir. Und genieße nur noch eins: den Spaß, auf dem Mäusestieg ins Tal hinunterzukullern und auch noch ein letztes Mal auf einer Wiese zu sitzen, zwischen drei Millionen Grashüpfern und umschwirrter Akelei. Wenn’s solchwelche ist. Im Wald steht immer nicht dran, was man gerade sieht. Man muss es pressen, wie’s kommt. Auch wenn ‘s hinterher ein bisschen anders aussieht.

Aber wenn ich sag, es ist eine originale Akelei, dann muss es auch eine sein.

Die letzte Karte:

“Mein liebes, fernes Mäuschen,

die Kutsche wartet. Gleich hast du mich wieder. Oder auch nicht. In den letzten Tagen hatte ich so ein komisches Gefühl: Ich bin nicht mehr bei mir, sondern noch irgendwo weit hinten unterwegs. Da bin ich wohl zu schnell marschiert. Oder falsch abgebogen. So ging’s mir letztmalig auch schon. Du weißt es ja. Da hab ich vier Wochen wie dumm vor dem Backofen gehockt und nicht gewusst, was mir war. Bis ich mich endlich eingeholt hab. Wenn’s wieder passiert, wünsch ich mir nur: Jeden Tag einen Pott Kaffee und einen dicken Pflaumenkuchen. Und dein schönes ‘Achjemine!’ – Natürlich bin ich zum Schluss immer langsamer spaziert. Mein anderer Leo ist ja manchmal wie ein Dackel, der nicht hört, wenn man pfeift. Vielleicht irrt er da oben noch, irgendwo auf dem Mäusestieg. Oder im Park. Ich weiß es nicht. Das Nachhausefahren ist fast so schlimm wie das Wegfahren.

Komm, Leo! Bei Fuß!

Wenn er doch nur hören tät. Tut er aber nicht.

So muss ich die ganze Kledasche doch wieder alleinig in meinen Rucksack stopfen. Die Kutsche wartet, der Schwager knallt mit der Peitsche.

Da bleibt nur ein Adieu,

Dein Leo, der Halbe.”

www.landschaftspark-degenershausen.de (eine Seite mit blumigen Bildern)

www.zum-forsthaus-degenershausen.de (mit Vogelgezwitscher)

So können Sie die Berichterstattung der Leipziger Zeitung unterstützen:

Keine Kommentare bisher

Schreiben Sie einen Kommentar