Ungefrühstückt. Ungekämmt. Leo schaut auf allen Vieren in den Sonnenschein. Wanderwetter. Schön, seufzt er. Mist verflucht, sagen seine Füße. Da hat's wohl einer etwas übertrieben am Vortag. Dabei hat er heute Mächtiges vor: Burg Nummer 2 und 3. Ein Schloss, einen Wohnturm. So idyllisch wie heute war's dermaleinst nicht im Selketal. Da bauten die Leute in Meisdorf sogar Taubenhäuser wie kleine Trutzburgen.
Der Grund? – Ganz einfach: Wenn die plündernden Horden kamen, konnte man da oben in den Ziegelburgen das Wertvollste verstecken. Drei Meter hoch. Da hätten die Plünderer schon klettern und fliegen müssen, um an Schinken, Schnaps und sauer ersparte Taler zu kommen. Drei solcher Taubentürme hat Leo in Meisdorf schon entdeckt, einen auf dem Museumshof, wo einem das alles erklärt wird mit der Bauernwirtschaft in fernen Zeiten.
Heutzutage sieht er kein Pferd, keine Kuh und kein Schwein im Dorf. Dafür bewundert er den letzten erhaltenen Wohnturm aus ganz finsteren Zeiten, als die Meisdorfer auch um Leib und Leben zittern mussten, wenn ringsum die wilden Scharen hausten, die Diener all der Herren, die immer glauben, sie könnten sich mit Schwert und Frechheit nehmen, was ihnen nicht gehört. Heutzutage geht das anders, zivilisierter. Da hilft auch kein Wohnturm mehr.
Im Blumen-Café kauft Leo sich zwei Brötchen für den ersten Kilometer. Man muss ja gerüstet sein für die Überraschungen. Das Schloss etwa der alten Falkensteiner, das sie sich vor 200 Jahren unten im Dorf bauten, weil sie auch die Nase voll hatten, immer auf den Berg hinauf zu müssen. Burgen sind anstrengend. Schlösser eignen sich dagegen prima als Hotel. Und Tagungsort. Leo schaut sich das hübsche Sanssouci kurz mal an – und geht fürbass. Denn eins stimmt auch: Gegen Burgen sind Schlösser langweilig wie Allongeperücken. Dann und wann haben sie auch einen Park und – ganz nobel – ein Wildgehege.
Ein Hirsch glotzt zurück, als Leo durchs Gitter äugt, zwei Rehe schlackern mit den Ohren. Drei Kitze fliehen und blöken wie kleine Ziegen. Sowas hat Leo auch noch nicht gehört. Kein Kinderbuch hat ihm das verraten, dass Rehe blöken. – Dass Hirsche röhren, weiß er ja. Aber dieser hier nicht. Der guckt nur. Vielleicht will er ein Möhrchen. Leo hat keins dabei. Schulterzucken beiderseits. Und guten Weg. Denn Leo zumindest weiß nicht, was vor ihm liegt. Auf der Wanderkarte sieht der Weg brav aus, immer an der Selke entlang, die linkerhand murmelt. Rechterhand wächst der Berg. Der Weg ist mit Tafeln und Spielgeräten bestückt für Leute, die gern turnen im Wald.
Ein halber Klimmzug, drei Armstützen, ein Gleichgewichtsversuch. Leo landet im Laub. Und beschließt, heute nicht um Medaillen zu kämpfen. Lieber was für die Bildung zu tun. Erste Lektion: Was sich da im Laub verbirgt, sind die Reste alter Stollen. Unterm Kirchberg von Meisdorf wurde Steinkohle abgebaut bis vor Kurzem. 350 Tonnen im Jahr. Donnerwetter, sagt sich Leo. Das hätte er nicht gedacht. Der Berg sieht so brav auf.
Aber brave Berge trügen. Das erfährt er ein paar Stolperer später, wo ein Steinbruch gähnt im Gehölz. Der eigentlich nichts Besonderes ist. Steinbrüche gibt’s überall. Aber dieser hier scheint auch die Steinbrecher überrascht zu haben, denn unter lauter Stein und Geröll fanden sie eine vier Meter dicke Schicht Stauseelöß, wie da zu lesen steht. Das feine Zeug, das sich in Seen ablagert, wenn sie nicht ablaufen. War hier ein See? – Die Tafel sagt: Ja. In der Eiszeit. Da stand das Eis in Sachsen und Anhalt so hoch, dass der Gletscher das Selketal abriegelte. Aus der Selke wurde ein See. Da braucht man ein bisschen Phantasie. Leo wandelt also auf dem Grund eines uralten Sees. Mit Kletterpilzen und Balancierstangen. Ab und an überholt ihn ein schweißspritzender Läufer. Selbst hier tun die Leute so, als müssten sie den nächsten Marathonlauf gewinnen.
Will Leo gar nicht. Sein Ziel ist sein Frühstück. Ein Frühstück mit Fragezeichen. Denn am Gasthof zum Falken herrscht noch Ruh. In seinem Magen spürt Leo Unbehagen. Was, wenn jetzt auch das nächste Haus ruht? Ist jetzt schon Winterruhe im Selketal – mitten im Sommer? Eigentlich wollte er hier schon abbiegen. Hier verstreicht sich der Weg ins Gewäld. Es steht sogar dran: Lumpenstieg.
Da bin ich doch richtig, freut sich Leo. Aber nicht ungefrühstückt!
Gekämmt ist er mittlerweile.
Fische sieht er tatsächlich beim Blick von der Brücke: zwei Gründlinge, etwas mager. Man müsste sie erst mal füttern, bevor man sie angelt.
Pferde beobachten den viel zu frühen Wanderer misstrauisch. Hat er Zucker dabei? – Hat er nicht. Nur ein Knurren im Bauch irgendwo. Und ein Stirnrunzeln. Denn am nächsten Zaun hängt ein Schild, das Arges verkündet: Die Obrigkeit will – wegen der Hochwassergefahr – eine Staumauer bauen im Selketal. Der NABU warnt. Ansonsten ist Ruh. Seit ein paar Jahren zwar schon, hat Leo erfahren. Aber wenn Obrigkeiten Mauern planen, dann bauen sie sie auch. Auch wenn sie es abstreiten oder kein Geld haben wie hier.
1994 gab es das letzte Selkehochwasser. Was eigentlich für so ein Gebirgsbächlein nichts Ungewöhnliches ist. Dann schwappt es über die Ufer und die Wege sind eine Zeitlang unbegehbar. Damals aber brach – oben im Tal – na was wohl? – eine Staumauer. Also wälzte sich nicht nur das Winterwasser das Selketal runter, sondern auch der ganze Stauteich. Da stand auch Etliches unter Wasser, was sonst trocken blieb.
Also baut man doch besser noch eine Staumauer, nicht wahr?
Käme Leo nicht aus Sachsen, würde er sich über die Betonköpfe in Anhalt wundern. Da er aus Sachsen kommt, tut er es nicht, guckt lieber, ob eine Spendennummer da steht für den NABU oder die Bürgerinitiative, die nach 19 Jahren ziemlich grauhaarig und weichgekocht sein dürfte. Obrigkeiten haben immer Zeit. Wenn die alten Streiter müde sind, tut man so, als sei alles geklärt, und baut die Mauer.
Leo liegt das schwer im Magen. Doch in der Thalmühle (mit “h” wie Hunger!!!!) trifft er, na hoppla, ein Augenblitzen wie von seiner geliebten Bäckerin. “Bekäm ich hier ein klitzekleines Frühstückchen?” – “Aber ja doch!”
Da ist er wieder ein bisschen glücklich. Er ist ja nicht hier, um Mauern auszureißen, sondern um Bäume zu bewundern, Schmetterlinge und vielleicht das ein oder andere Wildschwein. Getroffen hat er noch keins. Aber gerüstet sein will er und nimmt deshalb das Große Frühstück für Große Jungs. “Wohin soll’s denn gehen, der Herr?” – Dieses Funkeln! Wäre Leo nicht schon zutiefst verliebt, würde er jetzt schäkern. Aber das verkneift er sich. “Nu, einmal rauf auf den Berg und hinten wieder runter.” – “Wollen Sie wirklich da vorn hinauf?” – “Aber sicher. Ich wär ein Lump, würde ich mich nicht trauen, einen Lumpenstieg hinaufzumarschieren.” – “Geben Sie acht auf sich”, sagt die Mamsell. Mehr nicht.
Und so muss Leo allein herausfinden, warum der Lumpenstieg Lumpenstieg heißt. Und das auch nicht erst seit gestern.
Die fünfte Karte:
“Allerliebstes Mausiputzel,
ich hab aber ein Glück: Sie haben das Selketal noch nicht zugemauert und einen See draus gemacht. Was hätt ich mich geärgert, hätte ich vor einer Wand gestanden mit diesen schröcklichen Schilden: Vorsicht Hochwasser! Betreten verboten! – Es gibt Leute, die mauern alles zu, was ihnen verdächtig ist. Es gibt sie auch hier. Vielleicht sind die Wege deshalb so leer: Keiner weiß, was wird. Ist die Selke schon ersäuft oder wird noch betoniert? – Die schöne Nachricht: Sie haben kein Geld. Also gibt’s noch Weg und Steg, großes Frühstück und das seltsame Erbbegräbnis derer von Falkenstein, gleich unten im Tal – es düftet moderig aus der Gruft. 13 verstorbene Falkensteiner-Asseburger sollen drin liegen. Überprüft hab ich’s nicht. Aber grausig war’s, das kann ich wohl sagen.
Und nachher gleich steig ich in die Bergwand, ein Lump, wer Arges dabei denkt, aber wie für mich geschaffen. Wie’s gewesen sein wird auf dem Lumpenstieg, schreib ich dir nachher,
Dein Leo, Dein Lump.”
Keine Kommentare bisher