Kühe, Esel, Pferde. Das Selketal ist flach wie ein Pfannkuchen, bestreut mit Wiesen, Kastanien, Wanderwegen und der Selke, die hier ihre Schleifen zieht, als könne sie kein Unheil anrichten. Wie hübsche Mädchen so sind. - "Leo!" - Manche. Die eine oder andere. Geb ich ja zu: Meineeine ist eine ganz liebe. Und im Selketal hätt ich mit ihr so gern. Neun Kilometerchen, und alle Nase lang: "Hallooooo!" - Wer sich hier trifft, der grüßt. Oder guckt dumm aus der Wäsche.

Was sagt uns das? – Mancher ist im Wald so neu wie ein frischgeborenes Kitz. Der glaubt, es wäre überall in der Welt wie in Leipzig auf der Petersstraße, wo alle so grimmig gucken, wie es das Wetter hergibt. Und wer grüßt, will nur wieder einen Euro haben dafür, dass er mit Pappbecher da sitzt. Oder manchmal gar scheußliche Musik zelebriert. In der Petersstraße lauf ich auch immer so fröhliche Kurven, damit ich nicht gegrüßt werde.

Als mich das erste Pärchen in Seniorengrün grüßt, zuckt meine Hand schon zum Portemonnaie: Wollen die jetzt einen Euro oder nicht? – Sie wollten nicht. Was für ein schönes Hallo! und Guten Weg! Und vielleicht seh’n wir uns wieder. Weiter unten. Denn im Tal sind wir ja schön. Und das mit dem Kaffee ist auch nicht so schlimm. “Nöööööö”, bestätigt mir ein kehliger Weidgenosse von rechts. Oder war’s links? Hinter jeder Biegung lauert ein neues Stück schöne Wiese. Ohne Hausmeister, ohne dröhnende Mähmaschine. Hier wird noch mit Maul gemäht. Und wiedergekäut, wie sich das gehört. 36 rotbraune Rinder und ein weißes schauen mir zu, wie ich leichten Schrittes vorüberdefiliere. Von denen kam das “Nööööö.” Wir verstehen uns. Wenn Harzer Rinder “Nöööö.” sagen, meinen sie das auch so. Und übersetzt heißt das wohl: Das Gras ist extra lecker heute. Willste auch was?

“Nööö”, sagt sich Leo. Und grüßt und winkt. Die Rindviecher winken zurück – drei mit den Ohren, der Rest mit dem Schwanz. Sowas nenne ich Freundlichkeit. Vielleicht gilt’s auch nur den Fliegen, Mücken und Libellen. Vielleicht bin ich auch die Attraktion des Tages, denn viele Wanderer begegnen mir nicht. Was verständlich ist: Wer wandert schon hinauf zur Selkemühle, wenn’s keinen Kaffee gibt?

Jeder zweite fragt Leo nach dem Weg, weil Leo wohl so aussieht, als kenne er sich hier aus. Kennt er auch. Eine ordentliche Wanderkarte ist die Grundlage aller Zielstrebigkeit. Wer nicht weiß, wo er hin will, der braucht erst gar nicht loszugehen. Auch wenn es nur den einen Weg gibt. Und ab und zu ein Völkchen Kühe, das geruhsam frische Milch zusammenkäut. Ab und zu eine Brücke und die Gelegenheit, in die flachen Wasser der Selke zu spähen. Gibt es hier Fische? – Wahrscheinlich nicht, sonst säßen ja lauter Angler am Ufer wie in Leipzig an der Elster, mit Sessel, Schachspiel und Wodkavorrat, wartend auf hungrige Fische. Hier sitzt keiner. Und Forellen springen auch nicht. Nur dann und wann macht es “Blubb!” Und ein Wasserläufer ist verschwunden. Die Wasserläufer sieht man, mehr nicht. Vielleicht sollte ich doch besser nicht baden in der Selke? Vielleicht lauern da …

Ich könnte ja zurücklauern. Vielleicht sehe ich dann meinen ersten Hecht beim Hechten? – Kann ja sein.Leo lauert nicht. Leo ist voller Sonnenschein. Und Erwartung. Denn rein astronomisch betrachtet müsste sie jetzt auftauchen, so langsam, als Spitze überm Wald, als Überraschung überm Tal. Und wenn er die Augen zusammenkneift, dann sieht er sie – oder sieht er sie nicht? Ein Türmchen? Eine Wetterfahne? Ist sie das, oder ist sie es nicht? – Seine Karte sagt ja. Sein Bauch sagt: Hunger. Und das erste Gasthaus, das er trifft nach 24 schönen runden Kurven …

“Leo!”

… sagt: Kirschwaldtorte, Schlagsahne und 1 Pott Kaffee: Zwosiebzig.

“Torte ist ungesund für mein Leoleinchen”, murmelt die schöne Bäckerin in Leos Kopf. Sie ist auch dabei, wenn sie gar nicht dabei ist. Das hat Leo ja gelernt. Die schönen Frauen sind das ewige schlechte Gewissen der Männer. Was tun? – Tapfer sein, sagt sich Leo. Sie wird schon recht haben, hungre ich lieber noch ein Stück und lass mir dann lieber ein zünftiges Rittermahl servieren oben auf der Burg. Denn er ist da. Fast beinah. Seine Karte hat nicht geschwindelt. Hier ist der Aufstieg zur Burg Falkenstein, die er nicht gesucht hat, aber gefunden. Und wie jeder zünftige Aufstieg auf eine Burg ist auch dieser hier ein Eselssteig. Krumm, bucklig, kurvenreich und steil. Das weiß Leo von allen seinen Burgen. Nur der Neuzeitmensch lässt sich mit bunten Touristen-Zügen hinauf auf die Burgen fahren.

Früher war das nicht üblich. Da wurde alles mit Eselskraft auf die Berge geschleppt. Alles, was die Burgherren so brauchten: Hühner, Bier, Sellerie und hübsche Mädchen.

“Jetzt gehst du aber zu weit, Leo. Das ist …”

Keine Bange, mein Schatz, ich erwarte da oben keine hübschen Mädchen. Auch kein Burgfräulein. Nur einen Burschen namens Eike aus Reppichau. Von dem ich dir noch nichts erzählt habe, weil eigentlich keiner Genaueres weiß. Außer dass irgendwer mal gesagt haben soll, er wäre hier gewesen. Naja, gesagt ist gut. Das gibt es sogar schriftlich: 1219 war er hier, das ist urkundlich belegt, auf Einladung des Grafen Hoyer von Falkenstein. Das Gerücht dreht sich nur um die schöne Frage: Hat er hier den “Sachsenspiegel” geschrieben in schönstem Niederdeutsch (was damals Sächsisch war) oder nur zu Ende geschrieben oder überhaupt? Und warum eigentlich Sachsenspiegel. War er denn Sachse?

Eigentlich Ostfale, schreiben die Annalen. Ein echter (Nieder-)Sachse also. Denn Sachsen hieß noch Sachsen, wie es sich gehört. Und wo heute die Sachsen wohnen, regierte Markgraf Dietrich von Meißen, genannt Der Bedrängte. Den kannte Eike auch. Er kannte wohl alle, denn er kam viel rum bei seiner Suche nach dem, was die hohen Leute damals für Recht hielten. 1209 hat er auch Dietrich besucht, den Dietrich, der dann 1212 so viel Ärger mit den Leipzigern bekam (weil beide völlig unterschiedliche Vorstellungen von Recht und Gesetz hatten) und der dann 1221 vergiftet wurde. Vielleicht auf Anstiften der Leipziger, heißt es in den Annalen. Bewiesen hat es keiner. Und welches Recht galt überhaupt?

In jeder Ecke galt ja anderes Recht. Da musste erst ein Eike sich auf die Socken machen und das ganze bunte Gewirr zusammenklamüsern. Per Hand. Ich stelle ihn mir immer wieder fluchend vor über seinen mit lauter roten Krakeln bedeckten Pergamenten, weil sich das Recht hinterm nächsten Berg schon wieder geändert hatte. Statt Hand ab für Diebstahl eben Kopf ab oder Burg weg oder drei Wochen strenge Folter.

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Oder lieber zehn Mal den Eselssteig rauf und runter? – Leo merkt schnell, dass er kein Esel ist und an so einem Berg ins Keuchen kommt. Vielleicht wär’s ja mit Kirschtorte und Kaffee besser gegangen. Aber wem sagt man das, wenn man nach der dritten Wendung im Berg sieht, dass die nächste Windung noch steiler ist? Und von einer Burg ist nichts zu sehen. Und ein Esel leider auch nicht.

Die dritte Karte:

“Mein liebstes Bählämmchen,

was bin ich glücklich. Ick bin allhier, durchgeweicht wie eine Buttersemmel, aber richtig froh, platterdings auf einer Wiese, die eigentlich ein Zwinger ist, vor mir Burg, hinter mir Mauer, neben mir Gänseblümchen und meine qualmenden Schuhe. Ich hab den Falkenstein gefunden. Er ist da, kein Schwindel. Und ein Eintrittsverkäufer sitzt auch da, gleich hinterm Tor: Schöne Aussicht, Verlies und Turm für 6 Euro, wenn ich kein Kind mehr bin. Wie beweise ich das? Keine Ahnung. Wenn ich wieder laufen kann, geh ich mal gucken, ob alles stimmt. Jetzt guck ich erst mal Himmel – blau, weiß und ein bisschen grauhaarig mit Brille: ‘Geht es Ihnen gut, junger Mann? Brauchen Sie Hilfe?’ – Jetzt geht’s mir schön. Danke für die Nachfrage. Waren Sie schon in der Folterkammer? – ‘Nö, is uns zu teuer. Na denn mal tschüss.’ – Da werde ich wohl die ganze Burg für mich haben. Nur mein Burgfräulein fehlt mir. Wie immer.

Dein Leo.”

Das Selketal: www.selketal-harz.de

Burg Falkenstein: www.dome-schloesser.de/falkenstein.html

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