Fehler gehören zum Wandern. Man merkt es meist erst ein paar Kilometerchen zu spät, dass man doch vielleicht besser den Umweg genommen hätte. Oder den Holzweg. Oder die Wiese. Ich hab die Wiese genommen. Aber da war es schon zu spät. Ich hätte den Umweg nehmen müssen. In Ballenstedt, den Schildern nach, die so nervend zum Schloss wiesen. Ich wollte in kein Schloss. Mir war nach Wald. Nichts als Wald. Rauf den Berg. Zu den Wildschweinen.
Hätt ich’s gewusst … – Aber das Misstrauen gegen Schlösser steckt in mir. Man bekommt dann solche Filzlatschen angedreht, muss sich benehmen, darf nichts anfassen. Das ist nichts für mich. Was hab ich verpasst in Ballenstedt, der “Wiege Anhalts”? – Anhalt jedenfalls nicht. Das liegt noch vor mir. Aber Albrecht den Bären. Das ist der Mann, von dem Sachsen-Anhalt den Bären hat im Wappen. In Ballenstedt liegt er begraben. Am Schloss. Wo sonst?
Durch ihn ist Ballenstedt nicht nur die “Wiege Anhalts”, sondern auch die Wiege Brandenburgs. Denn das hat Albrecht 1157 als Mark Brandenburg gegründet, nachdem die Slawen wieder niedergeworfen wurden. Die hatten nämlich 74 Jahre vorher nach einem Aufstand ihr Land wieder zurückerobert, die damalige Nordmark. Ist das wichtig? Die Brandenburger werden es wissen.
Wen hab ich noch verpasst? – Peter Joseph Lenné mal wieder, den berühmten Landschaftsverschönerer, der auch in Leipzig zugange war, wie alle wissen. In Leipzig hat er den Johannapark und die Lennéanlage verzapft, in Ballenstedt natürlich den Schlosspark. Verpasst hab ich auch Wilhelm von Kügelgen, einen von den berühmten romantischen (mit “t”) Malern aus Deutschland, Freund von Caspar David Friedrich und Ludwig Richter. In Ballenstedt war er Hofmaler beim Herzog. Da steht auch das Kügelgen-Haus.
Ich hör schon meine geliebte Bäckerin: “So viel Kunst, Leo! Wie willst du dich da erholen?”
Recht hat sie. Ich ärger mich nicht. Und schreite fürbass – über die Wallstraße, wie sie hier heißt (das ist der Ballenstedter Promenadenring), den Berg hinauf. Da kann man nichts falsch machen. Wo es anstrengend wird, fängt der Berg an. Da geht das Herz in den Spagat, die Stirne tropft und die Lunge keucht. Deswegen haben die Ballenstedter auch oben an den Weg, wo die Lunge schon pfeift wie eine Dampflok, eine Lungenklinik hingebaut. In die ich nicht geh. Ich rauche ja nicht. Wer schon ein Laster hat, braucht kein zweites. Meines heißt, wie es sich gehört: ein Scheelchen oder zwei oder drei.
“Aber Leo, dann hättest du doch im Schloss …”
Hab ich aber nicht. Leo hat ein Ziel vor Augen. Das hatte er unten auch schon. Aber ich verrat’s nicht. Sonst wissen’s gleich alle.Sollen sie selber hinlaufen. Rauf auf den Kaufberg. Erstes Ziel: Bauernwiese. An lauter betrunkenen Kohlweißlingen vorbei und über eine Schotterstrecke, wie sie noch kein Leipziger gesehen hat. Auch nicht nach dem Winter. So sehen Straßen aus, wenn sie 900 Jahre alt sind. So lange halten sich hier Straßen. Suche mal einer in Leipzig eine 900 Jahre alte Pflasterstraße. Kann er lange suchen. Hier ist eine. Leimuferstraße heißt sie, steht auf meiner Karte. Straßenschilder gibt’s dafür keine. Nur einen hüpfenden Leo, der passable Stellen sucht, auf denen er sich nicht wund läuft.
Und weil’s keine Straßenschilder gibt, gibt’s auch keine Erklärungen. Noch nicht. Aber wer weiß, wie man wandert, der weiß auch, dass es für alles eine Erklärung gibt – am Ende des Weges. Von dem ich noch nichts weiß. Außer dass die Bauernwiese tatsächlich da ist, samt Kreuzweg, an dem Leo sich entscheiden muss: Klee oder Luzerne? – Er lässt einen von diesen schwarzen Käfern entscheiden, die hier herumkrabbeln, als hätten sie sich verlaufen. Der Käfer flüchtet ins Gras. Leo nimmt Luzerne. Und freut sich. Denn das heißt in diesem Moment: ein Scheelchen voraus. Oder zwei.
So steht’s jedenfalls auf der Karte.
Was er findet, sind leer gefutterte Himbeersträucher, ein Wetterdach und eine Bank. Das Fleckchen heißt Hohe Warthe. Aber wer was Hohes erwartet, muss wohl wieder auf die Karte gucken. Denn ringsumher steht der Wald und schweiget. Nicht ganz. Er piept ein bisschen, kollert ein wenig, huschelt im Wind. Der ein bisschen spielt. Die Karte verrät: Schnurstracks hat sich Leo selbst erhöht – von 200 Meter unten in Ballenstedt (wo er den Bären verpasst hat) auf 375 Meter. Mannomann. Wenn noch eine Aussicht wäre, könnte er sehen, wie weit er’s gebracht hat. Aber Aussicht ist nicht. Nur Wald.
Da wischt man sich die Stirn, verschnauft drei Minütchen. Oder drei Stündchen, wenn man Gesellschaft hat. Leo entscheidet sich für fünf Minütchen und eine halbe. Und geht forsch und fürbass … talwärts natürlich. Denn wo oben ist, da entspringen die Täler. Und die Talwege. Und ein bisschen weiter unten auch die Bäche. Namenlos natürlich. Erst ein bisschen feuchte Erde, dann ein Tröpfchen und ein Pfützchen. Was man gar nicht merkt, wenn man so das Tal hinunterträumt. Erst wenn’s plätschert, wird man munter. Na hoppla: Da ist ein Gewässer, ein ganz kleines. Schüchtern wie ein Leipziger Räbchen gleich neben dem Weg. Oder eine fesche Bäckerin, wenn Leo mal wieder flirtet.
“Aber doch nicht jetzt Leo, die Leute!”
Leo freut sich und wird ein bisschen rot vor Freude. Unten im Tal wird er sich hinsetzen und eine schöne Epistel schreiben für seine Schöne. Mit Schönschrift natürlich. Die kann er, wenn er es nicht eilig hat und sein Scheelchen Heeßen. Den es da geben muss. Denn die Leimuferstraße, die auch hier noch so heißt, obwohl es nicht dransteht, führt direktemang zur Selkemühle im Selketal. Die auf jeder vernünftigen Karte mit einem großen Pott Kaffee, einem Bierseidel oder einem Sektkelch eingemalt ist. Auf Leos Karte ist es ein Sektkelch. Und wo es Sekt gibt, muss es auch Kaffee geben. Immerhin ist er ja hier nicht in Preußen, sondern in Anhalt.
Das Bächlein, das sei verraten, wurde zum Bach. Der Berg zum Tal. Und die Selkemühle stand auch da, wo sie stehen musste. Mit Wandernadelstempel, Schilderwald und Picknickmobiliar in rustikal. Leute waren auch da, genug, um ein ratloses Häuflein zu bilden. Denn es gab weder mehr Sekt noch Selters noch Kaffee. Nicht heute, nicht morgen. Kein klapperndes Mühlenrad und keinen Wirt. Nicht mal ein Schild mehr und keinen Ruhetag. Hier war ganz und gar Ruh. Und Verdatterung. Und jeder fragte jeden, ob er noch was in seinem Rucksack hatte, einen Schluck Wasser vielleicht, einen Überlebensriegel. Eine Tomate. Kaffee wäre ein Wunder gewesen.
Jeder darf sich vorstellen: Einen am Selkegrund völlig verstörten Leo – ohne Kaffee. Was nun?
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Wer kann, darf hier wählen: den Berg wieder rauf oder rechts oder links, Klee oder Luzerne? – “In Sachsen wäre das nicht passiert”, denkt sich Leo. Und geht zu Tal. Was er eigentlich noch nicht wollte. Das wollte er sich eigentlich aufheben bis zum letzten Tag, einfach so mal das Selketal hinunterspazieren. Mit leichtem Gepäck und Kaffee im Bauch. Nun tut er’s ohne Kaffee. Und weiß in diesem Moment noch nicht, dass er all seinen Lieben wärmstens ans Herz legen wird, hier zu wandern. Bevor es zu spät ist. Das erfährt er erst weiter unten. 58 Kühe und drei Brücken weiter.
Jetzt wünscht er sich nur einen lütten Zugang zur Selke, die rechts irgendwo murmelt. Denn seine Füße glühen. Die will er jetzt gern in klares, frisches Wasser halten. Wenigstens das.
Die zweite Karte:
“Liebstes Schäfchen,
die ersten 100 Jahre hab ich geschafft, aber Kaffee gab’s trotzdem keinen. Es muss ein Unglück geschehen sein im Selketal, der Selkewirt ist geflohen. Die Selke ist noch da, mal rechts von mir, mal links, manchmal plappert sie ein bisschen, da denk ich an dich. Ich denk immer an dich. Du hättest gesagt: Pack die Thermoskanne ein, im Wald gibt’s keinen Kaffee. Du kennst ja deine Pappenheimer. Leo kennt sie nicht. Leo vertraut seinen Wanderkarten. Vielleicht sollte er das nicht tun. Dann spart er sich eine Enttäuschung. Und darf sich freuen, wenn am Ziel der Wirt den Laden hochrasseln lässt und ruft: Leute, es gibt Kaffee! – Nun sitz ich auf einer schönen müden Bank, meine Füße sind noch nass. Das Wasser der Selke ist so weich wie … du weißt schon.
Dein Leo.”
Ballenstedt mit Albrecht dem Bären, Lenné und Kügelgen: www.ballenstedt-information.de/tradition/index.html
Das Selketal: www.selketal-harz.de
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