Innovative Projekte anstoßen und Antworten auf die Fragen finden nach "guter Bildung für alle Gesellschaftsgruppen als Voraussetzung für soziale Gerechtigkeit und gesellschaftliche Teilhabe". So beschreibt der Direktor der Franckeschen Stiftungen in Halle, Dr. Thomas Müller-Bahlke, die Potenziale seiner Einrichtung. Zum Festakt am Sonnabend kommt der Bundespräsident.
Herr Dr. Müller-Bahlke, das Land Sachsen-Anhalt unterstützt die Bewerbung der Franckeschen Stiftungen um Aufnahme auf die UNESCO-Weltkulturerbeliste. Bundespräsident Joachim Gauck kommt am 23. März 2013 persönlich zum Jubiläum ihres Gründers. Worauf führen Sie diese Anerkennung zurück?
Der lutherische Theologe und Pädagoge August Hermann Francke (1663-1727) gehört zu den großen historischen Persönlichkeiten der europäischen Kultur- und Geistesgeschichte. Mit seinen Ideen und visionären Projekten hat er bereits vor dreihundert Jahren die Welt so mit verändert, dass es bis heute spürbar ist.
Seine Vision bestand darin, jedem Menschen, unabhängig von seiner sozialen Herkunft, eine hervorragende Bildung mitzugeben, um damit selbstverantwortliche und für das Gemeinwohl engagierte Mitmenschen heranzubilden, um auf diese Weise die gesellschaftlichen Verhältnisse seiner Zeit mit verbessern zu helfen. Damit wies er den Weg zur modernen Bürgergesellschaft.
Franckes Pädagogik folgte einem ganzheitlichen Bildungsansatz. Weit über einzelne Fächergrenzen hinaus, gehörte dazu auch die Vermittlung eines Tugendkanons, allgemeine und kulturelle Bildung, bis hin zum Schönschreibunterricht und Unterweisung in Körperpflege. Francke begründete das Realschulwesen in Deutschland ebenso wie das erste Lehrerbildungsseminar. Zudem war Mädchenbildung von Beginn an ein selbstverständlicher Bestandteil seines Bildungskonzeptes. Seine pädagogischen Neuerungen wurden von der Aufklärung aufgenommen, weiter entwickelt und wirken bis heute nach.
Sie beschreiben Francke als einen lutherischen Theologen. Wie wichtig war Francke das Erbe der Reformation?
Francke hat auch in vieler Hinsicht die Impulse der Reformation aufgenommen und vollendet. Dazu gehört neben der Einführung des flächendeckenden Schulwesens auch die massenhafte Verbreitung der Bibel und nicht zuletzt die systematische Ausbreitung des Luthertums über Europa hinaus. Kurzum, Francke hat in vieler Hinsicht Geschichte geschrieben. Er ist es wert, zu seinem 350. Geburtstagsjubiläum durch den Bundespräsidenten eigens gewürdigt zu werden. Und Joachim Gauck weiß natürlich als Theologe und gebildeter Bürger um die große Bedeutung Franckes.
Im Hinblick auf die Bewerbung für die Welterbeliste geht es neben dem immateriellen vor allem um das materielle Erbe und dessen universale Einzigartigkeit. Und hier finden wir bei den Franckeschen Stiftungen, der Schulstadt, die Francke einst errichtete und die bis heute erhalten geblieben ist, eine günstige Ausgangssituation vor. Denn es handelt sich hier tatsächlich um ein weltweit einzigartiges Ensemble sozialer und pädagogischer Zweckarchitektur bürgerlichen Ursprungs aus der frühen Neuzeit. Die Bewerbung erfährt also ganz folgerichtig die volle Unterstützung durch das Land Sachsen-Anhalt.Die Franckeschen Stiftungen sorgten insbesondere als Schulstadt für Furore. Wie steht es heute aus Ihrer Sicht um den Bildungskosmos?
Heute sind die Franckeschen Stiftungen wieder ein blühender Bildungskosmos, ein dicht gewebtes Netzwerk von rund 50 kulturellen, wissenschaftlichen, pädagogischen und sozialen Einrichtungen, die sich hier auf dem Gelände in den sorgsam sanierten historischen Gebäuden niedergelassen haben und, jeder auf seinem Feld, die Traditionen Franckes lebendig halten, weitertragen und fortentwickeln.
Hortensia Völckers, Künstlerischer Vorstand der Kulturstiftung des Bundes und damit eines besonders wichtigen Partners auf dem Gelände, hat die Stiftungen einmal ganz treffend als ?Kraftwerk der kulturellen Bildung? beschrieben.
Aber sie sind noch mehr, wenn man die vielfältige Wissenschaftslandschaft, die facettenreichen Sozialaktivitäten und allein die vier Regelschulen in den Blick nimmt. Die Franckeschen Stiftungen bieten heute wieder über soziale Schranken hinweg Bildungsangebote für alle Generationen, von den Kitas angefangen bis zum Seniorenkolleg der Martin-Luther-Universität, die allein mit zwei Fakultäten auf dem Gelände vertreten ist und übrigens traditionell als größter Partner der Stiftungen gelten kann.
Die Franckeschen Stiftungen verfügen über eine eigene Schulstiftung. Welche Ziele verfolgen Sie damit?
Seit Gründung der Franckeschen Stiftungen steht das schulische Geschehen im Zentrum. Wir haben heute zwei Grundschulen, eine Sekundarschule und ein großes Landesgymnasium mit besonderen Sprach- und Musikzweigen sowie Internatsbetrieb auf dem Gelände.
Gute Schulen benötigen neben konzeptionellen und organisatorischen, immer auch entsprechende finanzielle und infrastrukturelle Voraussetzungen, um hervorragende Arbeit leisten zu können. In der unselbständigen Schulstiftung werben wir Geld ein, um diese Voraussetzungen mit zu schaffen und die Rahmenbedingungen für die Schulbildung verbessern zu helfen. Auf lange Sicht möchten die Franckeschen Stiftungen selbst wieder die Trägerschaft von Schulen übernehmen.
Warum sollte man die Franckeschen Stiftungen in Halle unbedingt einmal besucht haben?Die Franckeschen Stiftungen sind heute noch als in sich geschlossene Schulstadt aus dem 18. Jahrhundert erlebbar. Zu dem wirklich beeindruckenden Gebäudeensemble gehören unter anderem die größte Fachwerkkonstruktion Europas, das erste Kinderkrankenhaus der Welt und das älteste erhaltene Bibliotheksgebäude in Deutschland.
Im Inneren kann man eine wunderbare barocke Kulissenbibliothek erleben, in der es nach Büchern duftet, während unter den Füßen die Dielen aus dem 18. Jahrhundert knarren. Im Historischen Waisenhaus locken zahlreiche Dauer- und Wechselausstellungen und als absoluter Glanzpunkt die barocke Kunst und Naturalienkammer im Mansardensaal.
Das Stiftungsgelände wird von etwa 4000 Menschen belebt, die hier lernen, lehren und leben. Aus den Fenstern der historischen Gemäuer am Lindenhof dringen die Klänge der musizierenden Schüler und der Gesang eines der ältesten Knabenchöre Deutschlands. Kleine Parks und schattige Winkel unter ausladenden Bäumen und mit schönen Bänken laden im Sommer zum Verweilen in dieser einzigartigen historischen Atmosphäre ein.
Welche Höhepunkte erwarten Besucher im aktuellen Jubiläumsjahr “Vision und Gewissheit. Franckes Ideen 2013”, das Sie anlässlich des 350. Geburtstages Franckes ausrichten?
Das ganze Jubiläumsjahr ist mit Höhepunkten angereichert. Im Januar hatten wir bereits eine internationale Konferenz hier, im Februar ein Festkonzert und Anfang März die feierliche Präsentation einer Sonderbriefmarke zu Ehren Franckes.
Vom 22. bis zum 24. März werden wir bei der traditionellen Francke-Feier ein ganzes Wochenende lang mit zahlreichen Veranstaltungen erleben. Es beginnt am Freitag um 19 Uhr mit einem Festvortrag des Rektors der Martin-Luther-Universität und anschließendem Konzert des Musikzweiges. Am Samstag erwarten wir dann den Bundespräsidenten und freuen uns auf seine Festrede. Hierfür haben sich bereits bis zu 800 Menschen angemeldet. Nachmittags geht es dann mit Kranzniederlegungen am Francke-Denkmal weiter. Am Sonntag folgt schließlich ein Fernsehgottesdienst aus der Marktkirche.
Das ganze Jahr über wird es weitere hochkarätige Veranstaltungen geben, etwa die Museumsnacht am 4. Mai, das Lindenblütenfest am 22. und 23. Juni, die Eröffnung der internationalen Kunstausstellung am 22. September und zum Abschluss die Präsentation einer neuen Dauerausstellung im Vestibül des Historischen Waisenhauses, um nur einige wenige Höhepunkte herauszugreifen. Das vollständige Programm mit den wissenschaftlichen, museumspädagogischen und allen weiteren Aktivitäten kann man immer aktuell auf der Website der Franckeschen Stiftungen abrufen: www.francke-halle.de.
Was haben uns denn aus Ihrer Sicht Franckes Ideen 2013 noch zu sagen?
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Francke kann uns bis heute als ein Vorbild dienen. Seine Visionen von einer gesellschaftlichen Verbesserung durch eine Bildungsoffensive reichen bis in unsere Zeit, und seine Gewissheit auf Grundlage eines festen christlichen Glaubens hat nichts von ihrer Faszination eingebüßt.
Die Franckeschen Stiftungen sind heute wieder sehr viel mehr als nur eine museale Einrichtung. Mit ihren zahlreichen Partnereinrichtungen bieten sie europaweit einzigartige Potentiale, um von hier aus erneut innovative Projekte anzustoßen und Antworten auf die – heute wie zu Franckes Zeiten – aktuellen und drängenden Fragen nach guter Bildung für alle Gesellschaftsgruppen zu finden als Voraussetzung für soziale Gerechtigkeit und gesellschaftliche Teilhabe.
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