Der Leipziger Historiker Holger Haugk hat dem DFB-Team eines voraus: Er stand bereits auf dem Rasen des neuen Stadions in Lviv. Hier wird die deutsche Elf im Juni zwei Spiele austragen. Die Geschichte mache das historische Lemberg zu der Stadt in der Ukraine, wo der zivilgesellschaftliche Aspekt am weitesten ausgeprägt ist, so Haugk im L-IZ-Interview.

Herr Haugk, Sie haben unlängst Lviv/ Lemberg besucht. Wie kam es dazu?
Seit der Orangenen Revolution in der Ukraine habe ich gute Kontakte zu zivilgesellschaftlich aktiven Gruppen in der Ukraine, insbesondere im Umfeld des Boxers Vitali Klitschko. Vertreter von dessen Partei “Udar” (Ukrajinskyj demokratytschnyj aljans sa reformy UDAR; udar = ukr. für Schlag – Anmerkung der Redaktion) in Lemberg haben mich zu den orthodoxen Osterfeiertagen eingeladen: zum einen im Vorfeld der Fußball-Europameisterschaft, aber auch wegen der Vorbereitung des Wahlkampfes für die im Oktober nun stattfindenden Parlamentswahlen. So bekam ich wieder einmal einen interessanten Einblick in die politische Situation des Landes aber auch konkret zum Stand der EM-Vorbereitung in Lemberg.
Was fasziniert Sie an dieser westukrainischen Stadt?
Der Zauber von Lemberg entstand, wie meiner Meinung nach der Lemberger Historiker Jaroslav Hrytzak richtig feststellt, zur K u K – Zeit in der Distanz und Provinzialität Galiziens, als die Region zu Österreich-Ungarn gehörte. Den ersten österreichischen Beamten, die hierher kamen, schien es Halb-Asien zu sein, das österreichische Sibirien. Wenn die österreichische Beamtenschaft viele Hunderte von Kilometern von Prag oder Wien entfernt in die “Verbannung” fuhr, versuchten sie sich kleine Freuden zu erhalten, wie etwa mit der Anlage breiter Boulevards, wo man sonntäglich mit den Familien flanieren kann. Ein Theater – die heutige Oper -, Kaffeehäuser und viele wunderschöne Jugendstilhäuser, die jetzt inzwischen wieder aus ihrer Verfallenheit zu Ende der Sowjetzeit wiederauferstanden sind, machten und machen Lemberg zum “Wien des Ostens”. Zwar verlor Lemberg ab 1919 den Hauptstadtstatus, den es in Österreich-Ungarn für Galizien hatte, an die neue polnische Hauptstadt Warschau. Die österreichische Erbschaft machte Lemberg für Polen, Ukrainer und Juden aber zu einer kleinen Heimat, die die Wiedergeburt eines großen und unabhängigen nationalen Vaterlandes auf den Weg bringen sollte.

Können Sie das bitte näher erläutern?
Hier hatte der dann ab 1919 erfolgreiche polnische Nationalismus mit seiner romantischen Haltung sowie dem demokratischen Programm in Osteuropa in etwa die gleiche Rolle wie der französische Nationalismus für Westeuropa: Er nationalisierte andere Völker, indem er ihnen fertige ideologische Formeln und politische Formen bereitstellte. So ist es eben kein Zufall, und dies hat seinen Ursprung auch in Lemberg, dass sowohl die israelische als auch die ukrainische Nationalhymne mit einer ähnlichen Zeile beginnen: “Noch ist unsere Hoffnung nicht verloren” und “Noch ist die Ukraine nicht gestorben/ verloren”, was nichts anderes als eine Variante auf das polnische “Noch ist Polen nicht verloren” ist.
Was hat davon das dramatische und in Teilen mörderische 20. Jahrhundert überdauert?
Diese Geschichte merkt man im Stadtbild der unter UNESCO-Weltkulturerbe stehenden Altstadt noch. Die schönen Jugendstilhäuser stehen noch, ebenso wie Teile der mittelalterlichen Stadtmauer. Ebenso gibt es noch einen interessanten polnischen Friedhof am Stadtrand. Das jüdische Viertel wird momentan mit Mitteln der deutschen Entwicklungshilfe wieder aufgebaut.
Lemberg merkt man seinen ehemaligen multikulturellen Charme noch an. Und wenn man eben das Verbindende des dann im langen 19. Jahrhundert trennenden Nationalismus kennt – wie soeben beschrieben – kann man, wenn man will, diese Vielfalt in Lemberg im Stadtbild noch spüren. Was übrigens selten ist in Osteuropa, wo im Zweiten Weltkrieg das meiste hiervon leider zerstört wurde. Lemberg ist zudem eine stark religiös geprägte Stadt mit ehemals katholischen Kirchenbauten, die jetzt weitestgehend orthodox sind und einer alten armenisch christlichen Kirche. Die jüdischen Synagogen fielen leider der deutschen Besatzung zum Opfer.

Wie wirkt diese Geschichte im heutigen Lviv fort?
Diese die Stadt prägende Geschichte macht Lemberg noch heute zu der Stadt in der Ukraine, wo der zivilgesellschaftliche Aspekt am weitesten ausgeprägt ist. So ist Lemberg von der Perspektive des ehemals sowjetischen Imperiums die am meisten ukrainisierte und europäisierte Stadt, mit einer großen Offenheit für Neues aller Art.
In wenigen Wochen beginnt die Fußball-Europameisterschaft. In Lviv wird die DFB-Elf zwei Endrundenspiele austragen. Was spürt man in der Stadt von dem nahenden Ereignis?
Baustellen. Die Verkehrsinfrastruktur wird teilweise völlig erneuert. So wird das Straßenbahnnetz vom Hauptbahnhof in die Innenstadt komplett neu gebaut. Am Rande der Stadt, dort wo die sowjetischen Chruschtschow-Bauten stehen, wurde in Nähe des Busbahnhofs ein völlig neues Stadion erbaut. Am orthodoxen Ostermontag war ich dort und da die Stadion-Baustelle völlig offen und unbewacht da stand, könnte ich mir das Stadion und den Stand der Bauarbeiten in aller Ruhe direkt anschauen. Das Spielfeld wie die Tribünen sind bereits fertig; nur die Parkplätze und die Einlassbereiche müssen noch fertig gebaut werden. Dies müsste aber bis Anfang Juni noch zu schaffen sein. In der Stadt selber sind viele Schilder und Werbetafeln zur Euro 2012 mit dem Leitspruch: “Creating history together!” zu sehen. Ansonsten ist bei Hotel- und Gaststättenbesitzern, Taxifahrern und Ladenbesitzern die Hoffnung auf gute Umsätze während der EM. Das Problem kann nur sein, dass diese Hoffnung enttäuscht werden könnte. Wie ich erfuhr, werden die meisten Fußballfans mit Bussen direkt ans Stadion zum Spiel gekarrt und verschwinden nach dem Spiel auf diesem Weg auch gleich wieder, ohne auch nur etwas von der schönen Innenstadt Lembergs zu sehen. Ich kann EM-Touristen nur empfehlen, sich für Lemberg mehr Zeit zu nehmen.

Teil 2 des Interviews demnächst an dieser Stelle.
Zur Person:
Der Historiker Holger Haugk war als ehemaliger Projektleiter des Polnischen Instituts zu Zeiten der Orangenen Revolution eng mit den Entwicklungen in der Ukraine beruflich verbunden. Als Büroleiter des Grünen Europabüros Sachsen/Thüringen ist er unter anderem auch Mitarbeiter des Europaabgeordneten Werner Schulz, der im Europäischen Parlament die Ostperspektive der Europäischen Nachbarschaftspolitik bearbeitet. Zudem ist Holger Haugk stellvertretender Vorsitzender der Gesellschaft für Völkerverständigung e.V. (GfVv), die in Leipzig ihren Sitz im Werk II hat.

Terminhinweise:
Samstag, 09.06.2012, 20.45 Uhr MESZ
EM-Endrundenspiel Deutschland – Portugal in Lviv
Sonntag, 17.06.2012, 20.45 Uhr MESZ
EM-Endrundenspiel Dänemark – Deutschland in Lviv

Mehr Informationen:
ukraine-nachrichten.de

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