Im April 2023 forderte der Chef der Kassenärztlichen Vereinigung, Andreas Gassen, dass Patienten, die selbständig, ohne vorherige Einschätzung der Leitstelle, die Notaufnahmen von Krankenhäusern aufsuchen, eine Gebühr zahlen müssen. Seit dieser Zeit wird über „verstopfte“ Notaufnahmen, unberechtigte Inanspruchnahmen, unsolidarisches Verhalten und ähnliches diskutiert.
Wir haben dazu sechs Krankenhäuser, vier in Leipzig und zwei im Umland, angeschrieben und vier Fragen zu diesem Thema gestellt.
Dass die Fragen den Kern der Probleme, zumindest aus Sicht des antwortenden Krankenhauses treffen, lässt sich aus der Einleitung der Antwort-Mail erkennen. Diese lautet: „Vielen Dank für die gut recherchierte Anfrage.“
Die These
Unsere Anfrage wurde mit folgender These eingeleitet:
„In Deutschland gibt es immer wieder Diskussionen über eine Gebühr für Menschen, die ohne wirklichen Notfall in die Notaufnahmen der Krankenhäuser und Kliniken gehen. Das klingt so, als ob alle, die das machen, nur keine Lust haben, sich bei Haus- und Fachärzten in die überfüllten Wartezimmer zu setzen, oder langfristige Termine wahrzunehmen.
Aus eigenem Erleben und durch Bestätigung anderer, scheint aber ein Teil der Betreffenden einfach keinen Hausarzt zu haben, auch keinen zu finden. Auch Fachärzte nehmen zum Teil keine neuen Patienten an. Die Stadt Leipzig ist noch relativ gut mit der ärztlichen Versorgung abgedeckt, im Umland sieht das aber anders aus. Der Ärztemangel auf dem Land ist dramatisch.“
Aus dieser These ergaben sich dann die Fragen.
Es ist nicht wirklich verwunderlich, dass sich zuerst nur ein Krankenhaus bereiterklärte, dazu Stellung zu nehmen. Vielen Dank an Dr. Robert Stöhr, den Leiter der Notaufnahme des Diakonissenhauses Leipzig.
Die Antworten wurden schriftlich gegeben und sind auch von der Pressestelle des Diakonissenhauses Leipzig autorisiert.
Eine Einordnung zur Notaufnahme des Diako
Das Evangelische Diakonissenkrankenhaus Leipzig ist ein Krankenhaus der Grund- und Regelversorgung und liegt im dicht bewohnten Stadtteil Leipzig-Lindenau. Es ist mit ÖPNV und für Anwohner auch gut fußläufig erreichbar. Man kann davon ausgehen, dass die Notaufnahme auch hochfrequentiert ist.
Fragen und Antworten
Steigt die Anzahl der Fälle, die normalerweise den Besuch der Notaufnahme erforderlich machen, wirklich? Oder ist es ein „gefühlter Anstieg“?
Die Patientenvorstellung sind mit der Coronapandemie flächendeckend etwas zurückgegangen, das Patientenaufkommen ist insbesondere für „fußläufig“, also selbst vorgestellte, Patienten rund 10 % geringer als noch vor der Pandemie. Insgesamt ist der Trend zu einem Mehr an Vorstellung zumindest aufgehalten worden, die Fallzahlen steigen nun langsam wieder etwas an. Einen deutlichen relativen Anstieg verzeichnen wir tatsächlich bei Zuweisungen über Haus- und Fachärzte und auch bei den Zuweisungen nach Rettungsdiensteinsätzen, welche jedoch mit wesentlich mehr Behandlungsaufwand verbunden sind.
Können Sie bestätigen, dass Menschen, die ohne „echten“ Notfall in die Notaufnahme kommen, als Grund angeben „Ich habe/finde keinen Arzt“?
Es gibt diese Fälle, sie sind jedoch nicht die Regel. Grundsätzlich beobachten wir, dass ein ganz überwiegender Teil der Bevölkerung versucht, alles richtigzumachen und auch versucht, einen Hausarzt oder sogar einen Facharzt aufzusuchen. Fachärzte nehmen in der Regel keine Neupatienten auf.
Kommt jemand dann in die Notaufnahme und hat keine schwere Erkrankung oder ist ein sogenannter „Bagatellfall“, stellen diese Patienten häufig kein Problem dar und führen auch nicht zu einer „Verstopfung“, da der Aufwand für diese Versorgungen sehr gering ist, sei es ein Rezept oder eine Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung.
Dennoch spüren wir die Einschränkungen der Kassenärztlichen und vor allem der fachärztlichen Versorgung deutlich. Dies sehen wir an zwei Patientengruppen in der Notaufnahme besonders. Das ist einerseits eine Häufung von „Abklärungsfällen“, welche von Haus- oder Fachärzten bei den dort bestehenden Defiziten wie fehlende Kapazität, fehlende Termine und abgelehnte Neuaufnahme an die Notaufnahme verwiesen werden und teils auch schon mit einer kurzfristig abzuklärenden Verdachtsdiagnose und entsprechenden Zuweisungsscheinen zugewiesen werden.
Dieses Patientenkollektiv erfordert einen hohen apparativen und technischen Aufwand, aufgrund Labor und beispielsweise Röntgendiagnostik entstehen lange Verweildauern in den Notaufnahmen.
Letztlich kommt es dann jedoch in deutlich weniger als der Hälfte der Fälle zu einer tatsächlichen Krankenhausaufnahme, sodass man ex post sagen kann, dass ein großer Teil der Patienten auch bei entsprechenden Fachärzten und Hausärzten behandelt hätte werden können.
Wir Notaufnahmen sehen uns aber auch für diese Patienten in der Verantwortung, da aus unserer Sicht auch keine andere Versorgungsebene patientendienlicher ist als eine kurzfristig zur Verfügung stehende (ambulant versorgende) Notaufnahme. Das Hauptproblem ist auch hier die massive Kostenunterdeckung und nachträgliche Streichung von erbrachten Leistungen durch die kassenärztlichen Vereinigungen, sodass die Leistungen auch hier nicht kostendeckend erbracht werden.
Im Weiteren ist die Versorgung von Pflegeheimen und dort kurzfristig eingetretenen Zustandsverschlechterungen häufig nicht durch den Hausbesuchsdienst abgedeckt, sodass es zu regelhaften Rettungsdienstvorstellungen und daraus resultierend zu Notaufnahmevorstellung kommt. Auch hier müssen weit weniger als die Hälfte der Patienten tatsächlich aufgenommen werden.
Gibt es einen signifikanten Zuwachs an Besuchern der Notaufnahmen aus dem ländlichen Raum?
Nein, das können wir mit den vorliegenden Daten und unseren Beobachtungen nicht erkennen.
Welche dringend erforderlichen Maßnahmen, durch Kommune, Land und Bund, sehen Sie?
Zunächst ist es kontraproduktiv, wenn ausgerechnet Vertreter der Kassenärzte im Unwissen um die Versorgungsrealität dann Notaufnahme-Gebühren einfordern, wenn es gerade die Notaufnahmen sind, die die Defizite der Kassenärztlichen Versorgung ausgleichen und gleichzeitig nur ein kleiner Anteil der Notaufnahmepatienten überhaupt davon betroffen wäre.
Ich möchte ausdrücklich betonen, dass es nicht an den fehlenden Bemühungen der niedergelassenen Kolleginnen und Kollegen liegt. Hier spielen ganz wesentlich politische und strukturelle Fragen eine Rolle.
So ist die Unterversorgung mit Fachärzten ein flächendeckendes Problem, die Kollegen arbeiten allesamt am Limit und den Kapazitätsgrenzen ihrer Praxen. Steigerungen von Kosten wie Löhnen der Mitarbeiter und Energiekosten oder auch notwendige Kapazitätserweiterungen oder Einstellungen von Ärzten werden in der Regel nicht gedeckt, der Arzt finanziert diese dann selbst. Eine Budgetdeckelung im fachärztlichen Bereich ist hier zusätzlich limitierend für eine Skalierbarkeit in den Praxen und begrenzt die Effizienz des Systems massiv.
Dies führt dazu, dass Ärzte, wie auch Krankenhäuser in Deutschland kaum die Möglichkeiten haben kostendeckend ambulant zu arbeiten. Zusätzliches Problem: Die Gebührenordnung für Ärzte bei privatversicherten Patienten wurde seit den 80er Jahren nicht angepasst. Es ist verwunderlich, wenn die Impfung beim Tierarzt die drei oder vierfache Gebühr einer Impfung beim Hausarzt kostet. Hier besteht dringlicher Handlungsbedarf.
Es ist grundsätzlich möglich, Facharztkompetenzen in Krankenhäusern 24/7 verfügbar zu machen, auch dafür sind diagnostische Möglichkeiten wie Ultraschall, Röntgen, CT, Labor eben nur dort immer kurzfristig verfügbar.
Aufgrund der Finanzierungsprobleme und der Unterdeckung der Notaufnahmekosten für Krankenhäuser können diese aber nicht kurzfristig auf steigende Kosten oder steigende Fallzahlen reagieren, da derzeit generell in Notaufnahmen nur rund 30 % der tatsächlichen Behandlungskosten in den Notaufnahmen refinanziert sind, wenn keine Aufnahme ins Krankenhaus erfolgt.
Dies führt folglich zur Frustration bei Patienten, stundenlange Wartezeiten, überlastetes Personal und viel zu wenig Platz und Behandlungskapazität in den Notaufnahmen.
Hierdurch entstehen derzeit zwangsläufig Versorgungsengpässe in beiden Bereichen, sowohl bei niedergelassen als auch in den Krankenhäusern, welche letztlich auf dem Rücken der Patienten ausgetragen werden und den Zugang zu einem gut ausgestatteten Gesundheitswesen erschweren. Daran ändert auch eine Notaufnahme-Gebühr nichts. Diese betrifft wie dargestellt nur einen Bruchteil der Notaufnahmepatienten, die darüber hinaus nicht mit großem Aufwand für die Notaufnahme verbunden sind.
Aus meiner Sicht kann eine Bündelung der Versorgung für ungeplante Patientenkontakte und Notfälle in den Notaufnahmen an den Krankenhäusern erfolgen.
Können diese kostendeckend arbeiten, wird das ambulante System der KV-en entlastet und für die Patienten ist klar, wer der Ansprechpartner in Notfällen ist, ohne sich durch ein kompliziertes, verwirrendes System von Notrufen und Abweisungen schlängeln zu müssen und letztlich doch trotz aller Mühen wieder in die Notaufnahme geschickt wird.
Notaufnahme St. Elisabeth
Kurz vor Redaktionsschluss erreichte uns noch ein Statement vom St. Elisabeth Krankenhaus Leipzig, ebenfalls einem Krankenhaus der Grund- und Regelversorgung.
Dort werden die Fragen kurz und knapp beantwortet:
Wir haben schon seit langem viele Fälle in der Notaufnahme, aber seit einiger Zeit bemerken wir einen weiteren Anstieg, der sicher auch mit Corona zu tun hat
Unsere Erfahrung ist, dass Patientinnen und Patienten berichten, dass sie entweder beim Arzt nicht drankommen, sehr lange auf einen Termin warten müssten, beim Facharzt keine Akutbehandlung stattfindet oder nur eine sehr begrenzte Patientenzahl in der Akutsprechstunde behandelt wird
Einen signifikanten Zuwachs aus dem ländlichen Raum können wir nicht bestätigen.
Fazit
Dass das erste Statement„nur“ das eines Leiters einer Notaufnahme ist, in anderen Notaufnahmen mag sich die Lage anders darstellen, so zeigt sich doch, dass die gestellten Forderungen und geführten Diskussionen über Notaufnahme-Gebühren reiner Populismus sind. Diese lenken ab von den strukturellen Problemen im Gesundheitswesen, besonders in der Haus- und Fachärztlichen Versorgung.
Hier ist ein Systemwechsel, bzw. eine grundlegende Reform (kein Reförmchen) erforderlich. Ob die sogenannte Krankenhausreform da hilfreich ist, bleibt zu bezweifeln. Mit Schließungen von Krankenhäusern fallen dann wahrscheinlich dortigen die Notaufnahmen ersatzlos weg und das Problem wird sich weiter verschärfen.
Wir werden an dem Thema dranbleiben, nach Veröffentlichung werden wir die angefragten Krankenhäuser erneut anfragen. Diesmal zu ihrer Einschätzung im Vergleich zu der obenstehenden. Ebenfalls werden wir die Kassenärztliche Vereinigung anfragen.
Wir dürfen gespannt bleiben.
„Braucht es eine Notaufnahme-Gebühr?“ erschien erstmals im am 24.11.2023 fertiggestellten ePaper LZ 119 der LEIPZIGER ZEITUNG.
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