Jona ist im ersten Lehrjahr der Ausbildung zur Pflegefachkraft. „Ich brenne für den Beruf“, sagt Jona selbst. Aber Fachkräftemangel und Krankenhäuser, die unter wirtschaftlichem Druck stehen, machen die Situation sowohl für Pflegekräfte als auch Patient*innen unerträglich. Das Uniklinikum Leipzig fordert im Gegensatz „Einsatz und Flexibilität“ von seinen Angestellten, während es im Ausland auf Fachkräftesuche geht und sein Marketing und Personalbindung verbessern will. Jona sieht die Lösungen woanders.
„Politisch könnte man einiges dafür machen, dass sich die Lage verbessert. Es gibt genügend examinierte Pflegekräfte, die nur wegen der Bedingungen nicht mehr in dem Beruf arbeiten. Sie merken, dass sie die Patient*innen in diesem System nicht so gut pflegen können, wie sie es gern würden. Sie haben gelernt, wie individuell, empathisch und ressourcenfördernd Menschen gepflegt werden könnten. Aber das geht nicht, wenn man für 30 anstatt fünf Menschen zuständig ist.“
Die Entwicklung geht schon seit Jahren schleichend, aber sicher voran: immer mehr Pflegebedürftige, dafür zu wenige Pflegefachkräfte. Auch in den Leipziger Krankenhäusern ist der Fachkräftemangel deutlich zu spüren. Von einem Notstand seien wir jedoch noch weit entfernt, sagen sowohl Michael Junge vom Pflegerat Sachsen als auch das Uniklinikum Leipzig. Jona widerspricht: „Ich würde definitiv von einem Notstand sprechen. Ich erlebe das jeden Tag.“ Damit ist Jona nicht allein.
Viel Verantwortung, weniger Lernen
Seit eineinhalb Jahren arbeitet Jona nun im Krankenhaus, erst zum Freiwilligen Sozialen Jahr (FSJ) in Weimar und seit März in Leipzig zur Ausbildung. Trotz der vielen Erzählungen von langen Arbeitstagen und hoher Belastung wollte Jona sich ein eigenes Bild machen.
„Ich hatte vorher richtig viele Berührungsängste. Ich hatte zum Beispiel Angst davor, IKM (Inkontinenzmaterial, Anm. d. Red.) zu wechseln oder irgendetwas richtig grob falsch zu machen. Ich hatte Angst, dass ich mich mega ekeln könnte. Dann habe ich gemerkt, dass ich das ganz gut packe.“
Mittlerweile liebt Jona den Beruf. Obwohl schon im FSJ das mangelnde Personal spürbar war. „Ich habe Sachen gemacht, die FSJler*innen sonst nicht machen würden.“ Heißt: Manchmal eher fürs Putzen und Auffüllen zuständig sein, anstatt mit den Pfleger*innen mitzugehen und etwas zu lernen. Schon zu Beginn der Ausbildung musste Jona allein mit einer Praktikantin eine 200 Kilo schwere, immobile Person waschen.
„Das muss eigentlich eine Fachkraft machen. Beim Waschen findet die meiste Krankenbeobachtung statt und ich erkenne ja noch nicht alle Krankheitszeichen im ersten Lehrjahr. Da wäre es wichtig, dass einmal im Dienst eine Fachkraft sich den Patienten anschaut. Aber das geht nicht immer.“
Die Belastung variiert, je nach Station und Krankenhaus. Auch andere Auszubildende berichten davon, zu oft allein gelassen zu werden mit den Aufgaben, weil die Fachkräfte auf Station nicht überall sein können.
„Meine Arbeitsbelastung ist an sich hoch. Man hat mega viel Verantwortung, wenn man in dem Bereich arbeitet. Zugleich muss man auch noch Leistung bringen. Im Pflegeheim zum Beispiel muss ich eben soundsoviele Leute waschen, damit dann alle fertig sind. Da ist Druck von Kolleg*innen da. Aber diesen Druck haben alle.“
Immer mehr Pflegebedürftige auf zu wenig Fachkräfte
Laut der Pflegevorausberechnung des Statistischen Bundesamts von 2021 wird die Zahl der Pflegebedürftigen allein aufgrund der zunehmenden Alterung bis 2055 um 1,8 Millionen Menschen steigen. Das ist eine Steigerung um 37 Prozent. Unklar ist, wie viele aufgrund der sich verschärfenden Klimakrise hinzukommen werden.
Währenddessen gehen in den nächsten zehn bis zwölf Jahren rund 500.000 Pflegefachkräfte deutschlandweit in Rente. Zusätzlich überlegten laut einer Umfrage der Alice Salomon Hochschule Berlin (ASH) 2022 rund 40 Prozent der befragten Pflegekräfte, ihren Beruf zu verlassen. Daran sei auch die Corona-Pandemie schuld, argumentierte die ASH. Einige Auszubildende brechen bereits wegen der hohen Belastung vorzeitig ab, hat auch Jona miterlebt. Und manche beginnen deshalb die Ausbildung gar nicht erst.
Wie viele Pflegekräfte genau in Sachsen fehlen, dazu gibt es keine aussagekräftigen Zahlen. Pflegekammern, ähnlich den Landesärztekammern, die die Pflegekräfte registrieren würden, gibt es nämlich nicht verpflichtend in allen Bundesländern. Auch in Sachsen nicht. Wie groß der Bedarf an Pflegekräften ist, weiß man deshalb nicht.
Uniklinikum Leipzig: Mehr Marketing, mehr Flexibilität und Einsatz der Fachkräfte
Auch im Uniklinikum Leipzig (UKL) ist der Personalmangel zu spüren. Jedoch gebe es auf alle Stellen für Fachkräfte, wie auch für die Ausbildungsplätze ausreichend Bewerbungen, so Helena Reinhardt, Pressesprecherin des UKL. Der Mangel betreffe alle spezialisierten Fachkräfte im Haus. Personaluntergrenzen würden jedoch nur in Einzelfällen, zum Beispiel bei übermäßigen Krankheitsausfällen gerissen. Die entsprechenden Strafzahlungen, die ein Krankenhaus dann leisten muss, werden schon in der Budgetplanung berücksichtigt.
„Die Personalbesetzung stabilzuhalten ist eine Herausforderung. Im Vergleich zu anderen Regionen in Deutschland ist die Entwicklung in Leipzig aber nicht bedenklich“, so Reinhardt. „(…) Wir haben die Themen Personalmarketing und -recruiting sowie -bindung ausgebaut und sind dabei, uns noch weiter hier zu verbessern.“
Zum Beispiel wolle man Arbeitszeiten flexibler gestalten und durch „vielfältige Bemühungen die Attraktivität der Arbeit im Krankenhaus steigern“. Außerdem gehe man auf Fachkräftesuche im Ausland. So begleitet momentan der Medizinische Vorstand des UKL Prof. Josten die Leipziger Delegation nach Vietnam. Hoffnung lege man auch in die geplante Krankenhausreform des Bundes.
Von einem Notstand will das Uniklinikum nicht sprechen. Stattdessen seien zumindest im Moment „Einsatz und Flexibilität“ der Pflegenden gefragt.
Was die Pflege wirklich braucht
Solche Aussagen sind ein Schlag ins Gesicht für die Pflegekräfte. In Streiks der letzten Jahre, wie denen an den öffentlichen Krankenhäusern der Charité und Vivantes, sowie den Jüdischen Krankenhäusern Berlin, fordern die Fachkräfte nicht nur mehr Gehalt, sondern vor allem auch Entlastung der Pflegekräfte durch zusätzliches Personal. An den Asklepios-Kliniken in Seesen, die in privater Hand sind, wurde eine Angleichung von Lohn und Arbeitsbedingungen an den bundesweiten Tarifvertrag öffentlicher Dienst gefordert.
Eine bundesweite Studie der Hans-Böckler-Stiftung ergab 2022, dass durch Rückkehr in den Beruf oder Aufstockung der Arbeitszeit mindestens 300.000 Vollzeit-Pflegekräfte, „bei sehr vorsichtiger Kalkulation, in einem optimistischen Szenario sogar bis zu 660.000 Vollzeitkräfte“ zusätzlich zur Verfügung stehen würden. Als stärkste Motivation für die Rückkehr nannten die Fachkräfte einen verbindlichen Personalschlüssel, der an die Bedarfe der Patient*innen angepasst sei, bessere Bezahlung und verlässliche Arbeitszeiten.
Mehr Zeit für menschliche Zuwendung wünscht sich auch Jona: „Man geht nicht mit einem guten Gewissen raus. Das belastet dann natürlich die Pflegenden, wenn man weiß: Ich habe die Person gerade nur so halb gewaschen und ich habe gar nicht mit ihr geredet und ich war mega ruppig, weil ich gestresst bin. Selbst Leute, die mega kompetent und empathisch sind, werden in solchen Not- oder Stresssituationen hektisch und unfreundlich.“
Profit raus aus der Gesundheit
„Profit gehört aus der Gesundheit raus. Das gehört generell nirgendwohin, aber in den Gesundheitssektor noch am wenigsten“, so Jona. In der Initiative „Gesundheit statt Profite“ engagiert sich Jona für einen umfassenden Wandel in der Pflege. Ein Baustein dafür sei die Abschaffung des Fallpauschalensystems.
Außerdem dürften Krankenhäuser nicht in privater Hand liegen. Verbindliche Personalschlüssel und eine bessere Bezahlung seien notwendig. Das Aufgabenspektrum der Pflegefachkräfte dürfe sich nicht dadurch erweitern, dass zum Beispiel immer mehr Küchenkräfte, Wirtschaftskräfte und Reinigungskräfte gekündigt würden.
„Dann bleibt der Boden eben dreckig, denn auch ich würde mich dann eher um die Patient*innen kümmern“, so Jona.
Auch eine finanzielle Förderung, gerade bei Langzeitpflegebedürftigen fordert Jona. Es sei Körperverletzung, wenn man den Patient*innen im Pflegeheim das Inkontinenzmaterial wieder halb dreckig anziehen müsse, weil die Krankenkasse nur eine begrenzte Menge davon übernehme und die Menschen es nicht selbst bezahlen könnten.
Momentan hat Jona noch eine 40-Stunden-Woche in der Ausbildung. Wenn die vorbei ist, will Jona aber nur 30 Stunden arbeiten. Für die drei Jahre Ausbildung könne Jona die hohe Belastung noch hinnehmen, schließlich brenne Jona für den Beruf. Aber sich selbst kaputtmachen, das will Jona nicht.
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